Open Science kann zu Feed-Forward Mechanismen in der Forschung führen
Dr. Ali Aslan Gümüsay über seine Open-Science-Erfahrungen
Die drei wesentlichen Learnings:
- Open Science bewirkt quantitative und qualitative Sichtbarkeitseffekte.
- Open Science hilft, einen größeren Impact für die Gesellschaft zu erreichen.
- Die überwiegende Mehrheit der Hochschulen und Forschungseinrichtungen bietet professionelle Unterstützung zu Open-Science-Praktiken und Finanzierungsmöglichkeiten, vor allem im Kontext von Open Access.
Wie sehen Ihre positiven Open-Science-Erfahrungen aus?
AG: Generell ist für mich Open Science eine Öffnung in die Gesellschaft. Wenn ich daran glaube, dass ich als Wissenschaftler:in der Gesellschaft dienen sollte, dann ist Open Science ein Werkzeug dazu. Dies ist unabhängig davon, ob es meiner Karriere nützt oder nicht. Gleichfalls gibt es positive Effekte, nämlich quantitative und qualitative Sichtbarkeitseffekte. Meine Publikationen, die ich im Open Access veröffentliche, werden um ein Vielfaches häufiger heruntergeladen. Zudem erreiche ich nicht nur meine Peers, sondern auch Praktiker:innen, die sich auf bestimmte Artikel beziehen.
Welche Vorteile erleben Sie, wenn Ihre Forschung außerhalb der wissenschaftlichen Community rezipiert wird?
AG: Was es mir bringt, hängt wieder damit zusammen, wie ich als Wissenschaftler agieren möchte. Meine Arbeit hat einen größeren Impact, eine größere Reichweite, einen größeren Nutzen. Es weitet sich der Diskursraum. Dafür stehe ich und dafür setze ich mich ein. Open Science ist allerdings eine Frage des Wissens und des Könnens. Ich wünsche mir deshalb für Projekte extra Mitarbeitende für Open Science. Beispielsweise kann die Aufbereitung von Forschungsdaten sehr gut von Datenexpert:innen übernommen werden. Ich wünsche mir auch eine Zusammenarbeit mit Akteur:innen, die Wissenschaftskommunikation an Fakultäten oder Institutionen voranbringen und die einem eben auch z.B. das Verfassen von journalistischen Texten teilweise abnehmen oder sich um die passende Distribution kümmern. Welcher Kanal funktioniert wie und passt am besten zu meinem Ziel. Natürlich muss der Wissenschaftler bzw. die Wissenschaftlerin auch die Überzeugung für Open Science mitbringen, aber die Umsetzung könnte ja auch bei jemand anderem liegen. Das wäre auch ein Zeichen für Jungwissenschaftler:innen. Man könnte ihnen damit zeigen, dass es Akteur:innen im Wissenschaftsbetrieb gibt, die ihnen helfen. Die Anforderungen an Wissenschaft sind mittlerweile so komplex – das kann man am besten in einem Team mit verschiedenen Professionen schaffen. Openness ist auch wichtig für das Feld, in dem ich als BWL’er arbeite: Die Unternehmen erwarten, dass ihre Cases in die Öffentlichkeit getragen werden. Es ist ein Unterschied, ob ich sage, dass ich in sieben Jahren einen Artikel in einem Journal veröffentliche oder in einem Jahr in der ZEIT.
Haben Sie ein Beispiel?
AG: Ich arbeite beispielsweise mit Sozialunternehmen zusammen, die auch purpose-getrieben sind. Ich kann denen dann Artikel zeigen, die ich im Harvard Business Review geschrieben habe oder im MIT Sloan Management Review, Pioneers Post, Süddeutsche usw. Dann sehen sie die Wirkung nach außen, die für sie eben auch wichtig ist. Es ist also ein doppelter Vorteil: Unternehmen vertrauen mir und sie sehen sich als Fall in der Öffentlichkeit.
Sie sagten gerade, Open Science sei eine Wissensfrage. Wo genau braucht die Wirtschaftsforschung mehr Wissen bezüglich Open Science?
AG: Vorweg: ich selbst weiß garantiert auch nicht alles zu Open Science. Aber fangen wir mit den Nachwuchswissenschaftler:innen an. Diese wissen oft gar nicht, welche Töpfe es beispielsweise gibt. Meine ersten drei bis vier Veröffentlichungen waren alle nicht im Open Access, weil ich nicht wusste, aus welchem Topf ich die Artikelgebühren bezahlen sollte. Durch Nachfragen an der Universität oder im Institut bekam ich dann die entsprechenden Informationen. Aber man muss eben wissen, dass man überhaupt nachfragen kann. Auch beim Einreichen bei den Journals muss man wissen, dass man nicht alle Einwilligungen erteilen muss. Und so gibt es viele Open-Science-Praktiken, die Wissenschaftler:innen sukzessive kennenlernen und erlernen müssen.
Gab es bei Ihnen einen disruptiven Moment, der Sie motiviert hat, nach einem offenen Weg zu suchen?
AG: Einen konkreten Moment, den ich retrospektiv benennen kann, gab es nicht. Ich wollte immer eine dienende Wissenschaft betreiben. Daher habe ich stets versucht, mit der Gesellschaft zu kommunizieren. Dabei habe ich im Prozess immer wieder neue Werkzeuge entdeckt – in Workshops, auf Konferenzen, in Gesprächen mit Kolleg:innen. Im DFG-Netzwerk haben wir zum Beispiel diskutiert, wie wir unsere Publikationen als Gesamtes veröffentlichen. Dann haben wir unter anderem Open Peer Review diskutiert. Gestern haben wir einen Antrag beim BMBF eingereicht, in dem wir uns auf die FAIR-Prinzipien berufen. Durch die Beteiligung am Kurs “Organizing in Times of Crisis“ bin auf die Idee gekommen, selbst Open-Access-Kurse anzubieten. Ich kannte zwar MOOC’s, habe sie aber nie selber gestaltet. Ich würde sehr gerne jetzt auch selbst solche Kurse gestalten und anbieten.
Woher haben Sie diese Tipps bekommen?
AG: In meinem Fall waren es wirklich Peers, Bibliothek und Co. Ich habe irgendwann eine E-Mail der Uni Hamburg bekommen, in der stand, mit welchen Verlagen Open-Access-Verträge bestehen. Ich glaube aber, die meisten Informationen habe ich auf Konferenzen erhalten, zum Beispiel der WK ORG vom VHB, der EGOS, auf der Academy of Management, also auf Konferenzen, auf denen Peers zusammenkommen und ihre Wissenschaftspraktiken reflektieren.
Sie haben bereits erwähnt, dass sie im Open Access veröffentlichen – wo genau?
AG: Ich versuche, bei den Journals direkt im Open Access zu veröffentlichen und dafür Gelder zu beantragen oder zu verwenden. Ansonsten nutze ich ResearchGate oder Academia.edu als Webseiten, bei denen ich auch meine Ergebnisse hochlade. Darüber hinaus mache ich nicht nur meine Publikationen öffentlich, sondern ich reflektiere auch meine Methoden öffentlich.
Woher nehmen Sie das Geld für Open-Access-Gebühren, die Sie entrichten müssen?
AG: Das Alexander von Humboldt Institut für Internet und Gesellschaft in Berlin stellt jährlich einen festgelegten Betrag für Open Access zur Verfügung. Ansonsten verwende ich Drittmittel aus Drittmittelprojekten, die entsprechend dafür zur Verfügung stehen. Es gab auch schon den Fall, dass die Universität Hamburg eine Kooperation mit dem Verlag hatte und die Kosten übernommen wurden und ich es dadurch kostenlos erhalten haben.
Sie erwähnten, dass Sie Forschungsergebnisse veröffentlichen bevor die Publikation für das Journal fertig ist. In welcher Form geben Sie Ihre Ergebnisse und Gedanken preis?
AG: Hauptsächlich sind es Working Paper. Gedanken veröffentliche ich aber auch in Blogposts oder Zeitungsartikeln zu Papern, die vielleicht erst in einem Jahr erscheinen. Ich möchte eben nicht, dass die Welt draußen fünf Jahre auf die Ergebnisse wartet. Der Vorteil davon ist, dass ich dadurch Feedback bekomme, das ich dann noch in den Zeitschriftenartikel einarbeiten kann und das Paper dadurch besser wird. Zudem mache ich auch offene Stakeholder-Dialoge mit Teilöffentlichkeiten bis hin zu Workshops, wo wir schon Aspekte besprechen.
Wie ist die Resonanz auf dieses Teilen?
AG: Ich habe bisher nur positives Feedback bekommen. Es ist ja so: Beim Artikel für das Academy of Management Journal dauerte es vom Einreichen des Artikels bis zur Veröffentlichung vier Jahre. Die erste Working-Paper-Version war hier schon zwei Jahre vorher fertig. Wir reden also von so sechs Jahren. Bestimmte Ergebnisse sind aber sofort interessant. Es gibt Interesse daran, bestimmte Dinge zu verstehen und es gibt teilweise auch Rückmeldungen via Twitter, LinkedIn oder über Gespräche, dass ein Artikel das Denken der lesenden Person verändert oder beeinflusst hat. Gerade in den Sozialwissenschaften gibt es Dinge, die akut sind. Wir haben beispielsweise auch viel zu Corona publiziert. Ich veröffentliche auch sehr viel zum Thema Religion. Es gibt nicht so viel zum Thema Religion und Management. Es gibt Menschen da draußen, die mir sagen, dass sie die Ergebnisse bewegt und ihr Verhalten verändert haben.
Achten Sie bei Publikationen von anderen gezielt darauf, ob Daten und Skripte transparent zum Artikel zur Verfügung stehen?
AG: Ich fordere sie mir nicht ein, wenn aber Appendizes von zentralen Artikeln vorhanden sind, schaue ich mir das auf jeden Fall auch an. Das ist dann schon sehr hilfreich. Ich lese mir gerne nachgelagerte Diskussionen und Publikationen zu bestimmten Artikeln durch. Also ein Diskurs um einen Artikel findet immer stärker statt. Sei es durch Kommentare oder durch Social Media. Das spielt eine immer größere Rolle.
Wo finden die Diskurse hauptsächlich statt?
AG: In meinem Umfeld finden die Diskurse viel auf organisationswissenschaftlichen Blogs statt, dann auch auf Twitter und LinkedIn, auf Konferenzen und in den Journals selber. Ein Vorreiter bei den Journals ist Academy of Management Discoveries (AMD), das veröffentlicht Videos in bestimmten Textpassagen, wo die Autor:innen persönlich in den Diskurs mit ihrem Artikel treten. Das heißt, Fragen, die die Herausgeber:innen den Autor:innen gestellt haben, werden im Video beantwortet.
Haben Sie Open Peer Review selbst als Autor oder Reviewer schon mal erlebt?
AG: Es gibt ja hier verschiedene Formate. Was wir gemacht haben in unserem DFG-Netzwerk: Wir geben nächstes Jahr ein Special Issue heraus in „Research in the Sociology of Organizations“ und ich bin der Editor zusammen mit drei Kolleg:innen. Wir haben die Artikel, die „conditionally accepted“ sind, online auf Google Drive gestellt für alle Kolleg:innen aus dem Netzwerk und des Special Issues. Und dort konnte jede:r kommentieren. Man muss sich natürlich fragen, was „Review“ eigentlich heißt. Die meisten Verlage haben hier Vorgaben. Ich finde es gut, mehrere Akteure ins Review-Verfahren einzubeziehen. Nicht-Anonymität finde ich schwierig. Gerade Wissenschaftler:innen, die noch in Bewerbungsprozessen stehen, profitieren davon, wenn sie ihr ehrliches Feedback anonym und unabhängig von Machtverhältnissen einreichen können.
Kann Wissenschaftskommunikation von den Wissenschaftler:innen selbst am besten gemacht werden?
AG: Die Aufgabenvielfalt von Wissenschaftler:innen hat stark zugenommen. Mit Hinblick auf Wissenschaftskommunikation sollten daher meines Erachtens Professionalisierungsstrukturen geschaffen werden. Ich war früher Unternehmensberater bei der Boston Consulting Group. Wir als Berater:innen wurden dort immer mehr zu Architekt:innen eines Ökosystems. Wir haben die Strategieberatung gemacht. Um uns herum waren IT-Berater:innen, operative Akteure usw. und wir haben alle zusammengearbeitet. Mein Job war hier das Management aller Beratungsinstanzen. Bezogen auf das System Wissenschaft sehe ich es parallel. Ich brauche verschiedene Akteure, die gemeinschaftlich um eine neue Erkenntnis ringen. Die Erkenntnis muss nicht nur generiert, sondern auch aufbereitet und disseminiert werden. Meine Kernkompetenz als Organisationsforscher ist zum einen das Generieren und zum zweiten das Koordinieren. Für die anderen Aufgaben gibt es professionelle Kommunikator:innen. Institutionen sollten von daher in solche Ökosysteme investieren. Und damit meine ich auch, dass institutionelle Strukturen geschaffen werden sollten für einen interdisziplinären Austausch und einen Transfer in die Breite. Am HIIG zum Beispiel, wo wir das Thema Digitalisierung als Querschnittsthema erforschen, haben wir Philosoph:innen, Soziolog:innen, Jurist:innen usw., die sich in gemeinsamen Räumen und wissenschaftlichen Veranstaltungen austauschen und oft zusammen publizieren. Hier findet dadurch ein anderer Austausch statt als an einer normalen Fakultät.
Wie sieht für Sie das Modell der Zukunft aus, um wissenschaftliche Erkenntnis zu transferieren?
AG: Bevor Ergebnisse veröffentlicht werden, muss erst einmal ein Diskurs stattfinden. Das wäre schon ein Impact, weil die Leute etwas daraus mitnehmen. Wenn die Ergebnisse feststehen, müssten diese für verschiedene Formate aufbereitet werden, sei es für Presse, Politikergespräche oder die interessierte Gesellschaft. Meiner Meinung nach müsste es Akteur:innen in meinem Ökosystem geben, die Ergebnisse jeglicher Art aufbereiten und in die Welt streuen. Und damit meine ich nicht nur Einzelergebnisse. Was wir brauchen, sind auch Metaanalysen und systematische Evaluationen, wo Forschungsergebnisse gesammelt und aggregiert und entsprechend verbreitet werden. Dadurch entsteht auch mehr Robustheit. Derzeit gibt es dafür allerdings wenig Outlets und auch wenig Wertschätzung. Das muss geändert werden. Es gibt zum Beispiel jede Menge Publikationen zu der Frage, wie Unternehmen mit Corona umgegangen sind. Das müsste zusammengefasst werden. Da springen dann eher Unternehmensberatungen auf, die hier Zeit und Arbeit in Metaanalysen investieren. Die haben aber eine andere Agenda. Ich denke, Wissenschaftler:innen sollten es vermehrt selbst machen.
Wo sehen Sie aktuell den Stellenwert von Open Science?
AG: In meiner Blase sind viele Wirtschaftsforschende, die Open Science machen, weil sie daran glauben. Und was Wissenschaftskommunikation betrifft: Es wird immer mehr erwartet und daher steigt auch das Interesse und das Engagement, hier mehr zu machen. Mit Open Science ist es wie mit dem E-Auto. Es gibt es, aber wir haben noch nicht genügend Tankstellen bzw. Ladestationen, dass man auch überall damit unterwegs sein kann und es reicht auch nicht für jede Fahrt.
Haben Sie davon schon profitieren können, dass Sie das Thema Open Science voranbringen?
AG: Viele Kolleg:innen finden es sehr gut, was ich da mache. Ich bin jetzt unter die 10 besten Nachwuchswissenschaftler:innen des Jahres gewählt worden und dort spielte ein Engagement für die Wissenschaft auch eine Rolle. Ob das ausschlaggebend war, weiß ich natürlich nicht. Ich beobachte aber, dass Offenheit, Transparenz und Transfer immer häufiger nachgefragt werden, sei es in Ausschreibungen, von Seiten der Universitätspräsident:innen oder von Akteur:innen in Kommissionen. Aber ich sage auch allen Doktorand:innen in meinem Fach, dass es ohne eine A+-Publikation schwierig wird mit der Professur.
Sie sind Forschungsgruppenleiter – welche Tipps haben Sie für Nachwuchswissenschaftler:innen?
AG: Meine Empfehlungen sind meistens sehr individuell. Wenn jemand z.B. nicht in die Wissenschaft will und nach der Promotion eher praxisbezogen arbeiten möchte, sollte eine Veröffentlichung auch in einem entsprechenden Praktiker:innen-Journal erfolgen, um sich als Expert:in zu positionieren. Ich empfehle jungen Doktorand:innen, die in der Wissenschaft bleiben wollen, eher auf Qualität als auf Schnelligkeit zu setzen. Aber wenn ich das Ergebnis gut finde, ermuntere ich auch, es in die Öffentlichkeit zu geben. Open Science kann zu Feed-Forward Mechanismen in der Forschung führen. Was heißt das? Ich habe in der Kommunikation mit der Öffentlichkeit gemerkt, dass sich neue Gedankengänge erschließen, die nicht nur etwas Bestehendes verbessern, sondern etwas Neues kreieren. Durch Open Science kommen wir auf neue Ideen. Und das finde ich zentral wichtig, dass ein Prozess nach vorne stattfindet.
Vielen Dank!
Das Interview wurde geführt von Dr. Doreen Siegfried.
Das Interview wurde geführt am 01.06.2021.
Über Dr. Ali Aslan Gümüsay
Ali Aslan Gümüsay ist Forschungsgruppenleiter Innovation, Entrepreneurship & Gesellschaft am Alexander von Humboldt Institut für Internet und Gesellschaft (HIIG) sowie Habilitand an der Universität Hamburg. Zudem leitet er das DFG-Netzwerk „Grand Challenges & New Forms of Organizing“. Ali Aslan Gümüsay studierte Management an der Saïd Business School, University of Oxford, wo er auch promoviert wurde. Von 2014 bis 2016 war er Lecturer in Management am Magdalen College, University of Oxford. In seiner Forschung konzentriert sich Ali Aslan Gümüsay auf die vier Bereiche: (1) Werte, Sinn & Hybridität in Entrepreneurship; (2) gesellschaftliche Herausforderungen, Innovation & neue Formen des Organisierens; (3) gesellschaftliche Komplexität und Wissenschaft; sowie (4) Digitalisierung, KI und die Zukunft der Arbeit/Führung.
Kontakt: https://guemuesay.com/
ORCID-ID: https://orcid.org/0000-0003-3252-7600
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