Qualitative BWL-Daten für Nachnutzung geöffnet: Ein Pilotversuch
Open-Science-Erfahrungen von Maximilian Heimstädt und Lukas Daniel Klausner
Fotocollage: ZBW
Die drei wesentlichen Learnings:
- Planen Sie bereits im Forschungsantrag die Kosten für die Nachnutzbarkeit ein, inklusive der Anonymisierungstätigkeit durch zum Beispiel eine studentische Hilfskraft. Planen Sie ausreichend Zeit für diesen Prozess ein und holen Sie die Einverständniserklärungen der Interviewpartner:innen rechtzeitig ein.
- Die Sekundärdatennutzung bietet eine sehr gute Möglichkeit, eine engagierte Forschungscommunity aufzubauen, die sich für das eigene Forschungsthema interessiert, und hiermit den Grundstein für fruchtbare Kooperationen zu legen. Das Teilen von Daten eröffnet auch Studierenden die Möglichkeit, frische Daten zu aktuellen Themen zu nutzen, um Codierung oder Kategorisierung zu erlernen.
- Ein effizienter Ansatz der Datenerhebung ist empfehlenswert. Zum Beispiel könnten weniger relevante Teile der Interviews oder biografische Informationen aus den Transkripten entfernt und stattdessen in den Kontextinformationen dokumentiert werden.
- Zum Studienreport: https://doi.org/10.26092/elib/2555
- Zum Datensatz: https://doi.org/10.1594/PANGAEA.961744
- Zum Forschungsdatenzentrum: https://www.qualiservice.org/de/
Können Sie das Forschungsprojekt bitte kurz zusammenfassen und vorstellen?
Maximilian Heimstädt: Unser Forschungsprojekt, gefördert von der Hans-Böckler-Stiftung, untersuchte eine aufstrebende Branche: Anbieter von algorithmischer Streikvorhersage, bekannt als „Predictive Risk Intelligence“. Diese Dienstleister bieten großen Unternehmen Unterstützung beim Management komplexer Lieferketten an, indem sie aus online verfügbaren Daten zukünftige Störungen vorhersagen. Besonders interessant ist für uns, dass sie nicht nur Naturkatastrophen prognostizieren wollen, sondern auch soziale Ereignisse wie Streiks und Proteste. Dies kann jedoch potenziell problematische Auswirkungen auf die Arbeitnehmer:innen haben, wenn Entscheidungen aufgrund solcher Vorhersagen getroffen werden, die sie unter Druck setzen oder sogar freistellen könnten.
Was war Ihre konkrete Forschungsfrage?
Maximilian Heimstädt: Es war eher ein exploratives Projekt. Unser Ziel war es, das Funktionieren dieser neuen Branche zu verstehen und herauszufinden, inwieweit verschiedene Interessengruppen, insbesondere Betriebsräte und Gewerkschaften, bereits Kenntnisse über diese Verfahren haben und darüber nachdenken, wie sie sich dazu positionieren können. Denn diese Technologien können durchaus im Interesse der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eingesetzt werden, wenn sie frühzeitig in die Implementierungsprozesse einbezogen werden.
Lukas Daniel Klausner: Der Gedanke war auch ein bisschen, wie könnte das möglicherweise umgekehrt werden? Wie könnten – theoretisch – gewerkschaftliche Organisationen und andere Interessensvertretungen der Arbeitnehmer:innen das ebenfalls nutzen? Im Laufe des Projekts stellte sich heraus, dass die tatsächlichen technischen Möglichkeiten der Unternehmen möglicherweise nicht mit ihren Behauptungen und Werbematerialien übereinstimmen. Daraufhin hat sich der Fokus unserer Forschung etwas verschoben hin zu den Aspekten, die sich tatsächlich durch diese Technologien verändern, und wir haben uns verstärkt mit den Fragen der Transparenzpraktiken beschäftigt, die sich daraus ergeben.
Maximilian Heimstädt: Der Fokus hat sich auch dadurch etwas verschoben, dass während unseres Forschungsprojektes das Thema des Lieferkettensorgfaltspflichtengesetzes deutlich an Bedeutung gewonnen hat. In Deutschland trat es am 1. Januar 2023 in Kraft, und darin wurde insbesondere gefordert, dass Unternehmen ihre Lieferketten transparent machen. Viele dieser Softwareanbieter haben daraufhin ihr „Framing“ angepasst und nicht mehr primär von Vorhersagen gesprochen, sondern betont, dass sie nun mit algorithmischen Verfahren Transparenz über die Arbeitsbedingungen in Lieferketten herstellen können. Sie haben erkannt, dass dies ein überzeugendes Argument ist. Sie positionieren sich nun als Dienstleister, die Unternehmen dabei helfen, die Anforderungen des Lieferkettensorgfaltspflichtengesetzes zu erfüllen.
Welche spezifischen Daten haben Sie genau erhoben? Könnten Sie uns einen Überblick über die Daten geben, mit denen Sie gearbeitet haben?
Lukas Daniel Klausner: Zum einen haben wir frei verfügbare Textmaterialien und Werbematerialien analysiert, die von diesen Unternehmen bereitgestellt wurden, wie White Papers, Policy Reports und ihre eigenen Präsentationen auf Websites oder anderen Plattformen. Darüber hinaus haben wir an Workshops und Seminaren teilgenommen, die von diesen Unternehmen hauptsächlich zu Werbezwecken veranstaltet wurden. Der Kern unseres Datensatzes besteht aus 31 von uns geführten Interviews mit Vertreter:innen verschiedener Interessensgruppen, darunter die Anbieter dieser Dienstleistungen, potenzielle oder tatsächliche Kund:innen sowie Vertreter:innen der kritischen Öffentlichkeit, wie NGOs, Arbeitnehmer:innen- und Interessensvertreter:innen. Es wurden auch Personen interviewt, die juristische Expertise im Bereich der Lieferkettensorgfaltspflicht hatten, sowie Wissenschaftler:innen, die sich mit dem Thema befasst haben. Die Interviews haben überwiegend eine studentische Mitarbeiterin, Sandrine Faißt, und ich zu zweit im Tandem geführt.
Wie war Ihr Vorgehen diesbezüglich? Haben Sie die Interviews zunächst geführt und dann im Nachhinein um Zustimmung zur Veröffentlichung gebeten, oder haben Sie von Anfang an offen kommuniziert, dass die Interviews veröffentlicht werden sollen?
Lukas Daniel Klausner: Wir haben gleich von Anfang an klar kommuniziert, dass wir eine Form von Einverständniserklärung benötigen, da wir ohne diese die Interviews nicht für unsere Forschung verwenden können. Bereits im Vorfeld haben wir zusätzlich angedeutet, dass wir die Daten gerne zur Nachnutzung bereitstellen würden und die Interviewpartner:innen gefragt, ob sie sich vorstellen können, einer Veröffentlichung zuzustimmen. Im Allgemeinen hat keine:r der Interviewpartner:innen die Zusammenarbeit von vornherein abgelehnt. Jedoch haben letztendlich nur 18 von 31 Interviewpartner:innen die weiterführende Nachnutzungsvereinbarung unterzeichnet. Es besteht die Möglichkeit, dass wir noch ein paar weitere Unterschriften hätten erhalten können, wenn wir beharrlicher nachgefragt hätten. Einige Personen, insbesondere aus der Wirtschaft und Industrie, hatten jedoch starke Bedenken hinsichtlich einer möglichen Nachnutzbarmachung der Daten, selbst wenn sie anonymisiert werden.
Maximilian Heimstädt: Auf jeden Fall ist diese Aushandlung der Nachnutzung etwas, das man auch anders hätte angehen können. Ich vermute, dass andere Forschende, die sich bereits mit der Nachnutzung von Interviewdaten beschäftigt haben, die Vereinbarung hierfür vor dem Interview haben unterzeichnen lassen. Für unser Forschungsprojekt schien es am besten, die Interviews zunächst durchzuführen und dann später um Freigabe zur Nachnutzung zu bitten. So konnten wir sicherstellen, dass die Interviews so oder so erstmal zustande kommen.
Werden sowohl der Audio- oder Videofile als auch das Transkript veröffentlicht, oder erfolgt die Veröffentlichung nur eines Teils?
Lukas Daniel Klausner: Zur Nachnutzung werden nur die Transkripte bereitgestellt. Der Anonymisierungsprozess war ziemlich aufwendig. Es ging nicht nur darum, Namen und explizite Firmenbezüge zu entfernen, sondern es ging auch um Metainformationen, wie etwa die Berufserfahrung einer Person. Im ersten Anonymisierungsdurchgang haben wir einige Stellen übersehen, an denen z. B. noch konkrete Zeiträume standen. Der Qualiservice der Universität Bremen, mit dem wir hierfür zusammengearbeitet haben, wies uns dann darauf hin, dass diese Informationen immer noch Rückschlüsse auf die Identität zulassen könnten. Daher mussten diese ebenfalls entfernt werden.
Maximilian Heimstädt: An den Stellen, an denen sensible Informationen enthalten waren, haben wir eckige Klammern eingefügt. Diese enthalten eine standardisierte Kennzeichnung für die Anonymisierung, gefolgt von den relevanten Informationen. Die Institutionen werden anonymisiert, aber es wird immer noch deutlich, welcher Bereich vertreten ist. Zum Beispiel wird statt einer konkreten Rolle in einer konkreten NGO „Arbeit im zivilgesellschaftlichen Sektor“ angegeben.
Lukas Daniel Klausner: „Durch unsere Zusammenarbeit mit dem [ökosozialen Bündnis 1] haben wir weitere Kontakte geknüpft und uns im [ökosozialen Bündnis 2] engagiert“, so in der Art.
Maximilian Heimstädt: Da es für uns der erste Versuch mit Nachnutzbarkeit von qualitativen Daten war, hätten wir diese Anonymisierung allein nicht bewerkstelligen können. Das Forschungsdatenzentrum Qualiservice unterstützte uns dabei. Wir haben eine studentische Hilfskraft eingestellt, um die Anonymisierung durchzuführen. Das Forschungsdatenzentrum stellte uns ein Softwaretool zur Verfügung und bot eine Einweisung an, um sicherzustellen, dass die Anonymisierung den hohen Qualitätsstandards entspricht.
Wie würden Sie denn ihre Daten beschreiben?
Lukas Daniel Klausner: Semistrukturierte qualitative Interviews.
Maximilian Heimstädt: Man könnte es wahrscheinlich auf der Ebene eines Fachgebiets oder einer Branche beschreiben. Wir haben nicht nur mit Mitarbeiter:innen eines Unternehmens oder einer bestimmten Berufsgruppe gesprochen, sondern vielmehr versucht, mit Personen zu interagieren, die entweder bereits in diesem Bereich tätig sind oder auf andere Weise an dieser aufstrebenden Industrie beteiligt sind.
Wie mussten Sie die Daten aufbereiten? Haben Sie die Transkripte erstellt, die Namen anonymisiert und die Kontextinformationen bearbeitet, wie Sie bereits erläutert haben? Liegen diese nun als Textdateien beim Qualiservice im Forschungsdatenzentrum?
Maximilian Heimstädt: Ganz genau!
Sie haben erwähnt, dass Sie eine gute Zusammenarbeit mit dem Forschungsdatenzentrum Qualiservice in Bremen hatten und die Anonymisierung nicht selbst durchgeführt haben. Können Sie einschätzen, wie umfangreich und arbeitsintensiv dieser Prozess war?
Maximilian Heimstädt: Bereits im Forschungsantrag haben wir die Kosten für die Nachnutzung eingeplant. Es war klar, dass ein Ziel dieses Projekts darin bestand, qualitative Daten über das Forschungsdatenzentrum zugänglich zu machen – eine methodische Pionierarbeit in der BWL. Wir haben daher zuvor ein Kostenangebot vom Forschungsdatenzentrum eingeholt, das bei etwa 6.000 EUR lag. Die Preise können verhandelbar sein, je nach Budget. Diese Kosten deckten im Wesentlichen die Arbeitszeit des Forschungsdatenzentrums ab. Allerdings war die eigentliche Anonymisierungstätigkeit nicht inbegriffen, nur ihre Unterstützung und Anleitung. Zusätzlich hatten wir im Forschungsantrag eine studentische Hilfskraft vorgesehen, die uns bei der tatsächlichen Anonymisierung unterstützen sollte. Das war eine zeitaufwändige Aufgabe, da keiner von uns zuvor Erfahrung damit hatte. Wir mussten uns zunächst mit dem Anonymisierungssystem vertraut machen und dann die Einverständniserklärungen der Interviewpartner:innen einholen. Dieser Prozess kann recht langwierig sein. Eine Stunde bereits transkribiertes Audio-Material erforderte zusätzlich noch etwa zwei bis drei Stunden Arbeitszeit für die Anonymisierung durch die studentische Hilfskraft.
Das könnte man als Tipp für andere aus dem Bereich der BWL sehen: Beantragen Sie Mittel für Beratungsdienste und die Anstellung einer studentischen Hilfskraft in Ihrem Drittmittelantrag.
Maximilian Heimstädt: Im Antrag auf Forschungsförderung der Hans-Böckler-Stiftung wird explizit nach den Plänen zur Nachnutzbarkeit der Daten gefragt. Vermutlich fühlten sich davon bisher vor allem solche Projekte angesprochen, die quantitative Daten erheben. Wir wollten aber mal ausprobieren, ob das auch mit qualitativen Daten klappt. Daher haben wir explizit Gelder hierfür beantragt. Es ist wichtig anzumerken, dass die Kostenstruktur für qualitative Forschung sich geändert hat, insbesondere im Hinblick auf Transkriptionen, die heutzutage dank kostenloser Tools deutlich erschwinglicher sind. Qualitative Forschungsprojekte müssen somit gar nicht unbedingt teurer werden, auch wenn durch die Nachnutzbarmachung ein neuer Kostenblock hinzukommt.
Wie fiel ihre Wahl auf das Forschungsdatenzentrum in Bremen?
Maximilian Heimstädt: Es gibt eine Liste des RatSWD, der Forschungsdatenzentren zertifiziert. Ich glaube, es sind etwa 40 davon zertifiziert. Diese Zentren haben in der Regel einen thematischen Fokus, sodass man herausfinden kann, welches davon am besten zur eigenen Forschung passt. Letztendlich gab es für uns zwei Zentren, die in die engere Auswahl kamen. Es gibt nur wenige, die sich mit qualitativen Daten befassen. Eine Kollegin aus der Soziologie, Isabel Steinhardt, hatte bereits Erfahrungen mit Qualiservice gemacht, also folgten wir ihrem Beispiel.
Was erhoffen Sie sich von dieser Nachnutzbarmachung?
Maximilian Heimstädt: In einer idealen Welt würden Menschen tatsächlich unsere Daten nutzen. Es wäre fantastisch, wenn sich jemand für dasselbe Thema interessiert, unseren Datensatz verwendet, ihn möglicherweise in neue Richtungen erweitert und eine kleine, aber engagierte Forschungscommunity um das Thema algorithmische Vorhersage und Mitbestimmung entsteht. Ich denke, dies könnte der Grundstein für wunderbare Kooperationen sein, wenn Menschen einfach unsere Daten verwenden würden. Ich wünsche mir auch, dass unsere Daten für Studium und Lehre verwendet werden. Besonders für die Ausbildung in qualitativer Forschung wäre es sehr nützlich, wenn Studierende, die oft nicht über die Ressourcen verfügen, um eigene Primärdaten zu erheben, frische Daten zu aktuellen Themen für das Erlernen von Codierung oder Kategorisierung verwenden könnten. Daher fände ich es großartig, wenn Studierende oder Projektgruppen die Daten anfragen und nutzen.
Wie funktioniert das genau? Haben Sie die Möglichkeit, festzulegen, dass die Daten für wissenschaftliche Zwecke genutzt werden dürfen, aber keinesfalls für Lehrzwecke? Gibt es so etwas wie einen Auswahlprozess, bei dem man seine Präferenzen angeben kann?
Maximilian Heimstädt: Das ist eine gute Frage. Aktuell läuft es so ab, dass Interessent:innen die Qualiservice-Website besuchen und dort eine Liste von etwa 40 Datensätzen einsehen können. Nachdem sie eine Kurzbeschreibung gelesen haben, können sie Qualiservice kontaktieren und ihre Absichten erklären, beispielsweise indem sie sagen: „Ich bin Wissenschaftler:in an der Institution X und arbeite an Projekt Y. Kann ich bitte Zugang zu den Daten erhalten?“ Sobald diese Erklärung abgegeben wurde, ist das im Wesentlichen alles, was getan werden muss. Anschließend wird eine Nutzungsvereinbarung unterzeichnet, und dann werden die Daten freigegeben. In unserem Fall werden die Daten direkt zum Download bereitgestellt. Qualiservice bietet auch Lösungen für sensiblere Daten an, bei denen der Zugriff möglicherweise eingeschränkt ist, beispielsweise indem sie nur an einem bestimmten Computerarbeitsplatz in Bremen eingesehen werden dürfen.
Lukas Daniel Klausner: Die Kommunikation zwischen Primär- und Sekundärdatennutzenden findet also nur indirekt statt, zum Beispiel wenn wir feststellen, dass unsere Arbeit zitiert wird und wir sehen, dass Kolleg:innen in Frankfurt, Zürich oder Erfurt unsere Daten für ihre Forschung verwenden. Dadurch entsteht möglicherweise ein Austausch. Bezüglich meiner Motivation möchte ich hinzufügen, dass für mich auch der philosophische Gedanke von Open Science, Open Access und Open Data eine große Rolle spielt. Ich glaube daran, dass Forschung zugänglich und nachvollziehbar sein sollte, genauso wie ich es meinen Studierenden in der Lehre vermittle. Ich erkläre ihnen, wie Forschung sein sollte, und danach zeige ich ihnen, wie es leider oft wirklich ist. Zumindest dort, wo ich Einfluss habe und mit den Mitteln aus meinem Projekt, versuche ich aber, diesen Idealen auch bestmöglich zu entsprechen.
Maximilian Heimstädt: Ja, das sehe ich genauso. Wir wollten zeigen, dass es möglich ist, sich nicht hinter verschlossenen Türen zu verstecken. Gleichzeitig bin ich dagegen, qualitative Forschung zu verteufeln, nur weil sie ihre Daten nicht öffentlich macht, während die quantitativen Forscher:innen dies tun. Es ist nicht richtig, alles über einen Kamm zu scheren. Forschung ist sehr vielfältig, und man kann nicht dieselben Standards und Prinzipien auf alles anwenden. Dennoch denke ich, dass es wichtig ist, für jede Forschungspraxis und -kultur individuell zu erproben, wie Offenheit umgesetzt werden kann. Wir wollten ein Beispiel dafür setzen und einfach ausprobieren, wie Offenheit für uns aussehen könnte. Es ist wichtig anzumerken, dass unsere Daten nicht unbedingt den strengen Kriterien einer Offenheitsdefinition entsprechen. Gemäß der verbreiteten Definition im Netz, die oft als Goldstandard angesehen wird, gibt es hier immer noch eine Barriere für den Zugang zu den Daten, da Interessierte sich erklären müssen und eine Nutzungsvereinbarung unterschreiben müssen. Nach diesem Verständnis ist es nicht wirklich offen, sondern „nur“ bereit zur Nachnutzung. Dennoch würde ich sagen, dass dies eine praktikable Form der Offenheit im Bereich der qualitativen Forschung ist.
Lukas Daniel Klausner: Es ist schon ein Schritt weiter als der übliche Ansatz, bei dem Daten überhaupt nur auf Anfrage bei den ursprünglichen Forscher:innen selbst verfügbar sind. Meine Erfahrung zeigt, dass „Daten auf Anfrage verfügbar“ oft bedeutet, dass sie einfach gar nicht verfügbar sind. Durch die Einbindung eines Forschungsdatenzentrums besteht jedoch eine gewisse Zuverlässigkeit, dass die Daten tatsächlich verfügbar sind, wenn sie angefragt werden.
Wie sind Ihre Erfahrungen mit Datenschutz und Forschungsethik?
Maximilian Heimstädt: Qualiservice legt fest, welchen Anonymisierungsgrad die Daten haben müssen damit sie zur Nachnutzung bereitgestellt werden. Persönlich befürworte ich, dass in Deutschland sozialwissenschaftliche Forschungsprojekte nicht verpflichtend durch eine Ethikkommission begutachtet werden müssen. Es sollte Forschenden möglich sein, sich an Ethikkommissionen zu richten wenn sie Beratung benötigen, aber es sollte nicht obligatorisch sein, einen Ethik-Check vor jeder Studie oder Datenerhebung durchführen zu müssen, wie es in Großbritannien oder den USA der Fall ist.
Welche Potenziale für die Nachnutzung bzw. Analyse sehen Sie für Ihre BWL-Daten?
Lukas Daniel Klausner: Ich denke, wir haben systematisch einige Fragen gestellt, die wir jetzt nicht mehr gezielt auswerten werden, da sich unser Forschungsinteresse im Verlauf des Projekts etwas verlagert hat. Insbesondere im Bereich Arbeitsbeziehungen oder generell bei Wandel- und Veränderungsprozessen in Unternehmen oder Branchen könnten unserer Meinung nach Erkenntnisse vorliegen, die wir derzeit nicht beforschen oder weiterverfolgen.
Maximilian Heimstädt: Wir kommen aus der Organisations- und Technikforschung und haben normalerweise wenig mit dem Fachbereich Nachhaltigkeitsmanagement zu tun. Dennoch können unsere Daten Einblicke in Fragen wie die Nachhaltigkeit in Lieferketten und die zugehörigen Governance-Mechanismen bieten. Obwohl wir diese Aspekte derzeit nicht nutzen, haben wir uns entschieden, den Datensatz bereits jetzt vor der Veröffentlichung unserer eigenen Forschungsarbeiten freizugeben. Wir halten es für unwahrscheinlich, dass jemand zufällig die Daten beantragt und genau die Teile verwendet, an denen wir gerade arbeiten.
Es gibt tatsächlich Untersuchungen, die zeigen, dass Forschende oft zögern, ihre Daten zu veröffentlichen, bis sie das letzte bisschen davon ausgewertet haben. Sie warten, bis sie wirklich nicht mehr wissen, was sie sonst noch mit den Daten anfangen oder welche weiteren Fragestellungen sie untersuchen könnten. Es gibt eine große Angst, dass jemand anderes schneller ist als man selbst.
Maximilian Heimstädt: Ja, ich denke, diese Angst, vor allem bei der Übertragung von qualitativen Daten, halte ich persönlich für etwas irrational. Die Vorteile, die sich daraus ergeben, dass man zeigt, an welchem Thema man arbeitet und möglicherweise in Kontakt mit anderen Personen kommt, überwiegen bei weitem das minimale Risiko, dass jemand einen spezifischen Satz auswählt, den man selbst zitieren möchte. Die Gefahr des „Scooping“, wie sie vielleicht bei experimenteller Forschung besteht, gibt es in diesem Sinne bei qualitativer Forschung nicht. Ich glaube jedoch, dass viele qualitative Forschende diese Angst empfinden, obwohl sie meiner Meinung nach nicht gerechtfertigt ist.
Sie sind in zweifacher Hinsicht Pioniere – zum einen, weil Sie überhaupt den Schritt gewagt haben, und zum anderen, weil Sie es so frühzeitig getan haben. Zumindest aus meiner Sicht ist das durchaus bemerkenswert.
Maximilian Heimstädt: Das stimmt, und dazu können wir auch sagen, dass wir in einer komfortablen Position sind. Wir arbeiten zusammen mit Leonhard Dobusch, der das Projekt beantragt hat, auch wenn er nicht direkt an der Datenerhebung beteiligt war und daher nicht namentlich im Bericht zu den Forschungsdaten erwähnt wird. Wir alle sind bereits promoviert oder sogar auf Lebenszeitstellen berufen und haben parallel mehrere Projekte am Laufen. Es handelt sich auch nicht um das zentrale Dissertationsprojekt eines von uns, bei dem das Gefühl entstehen könnte, dass viel davon abhängt und nichts schiefgehen darf. Wir waren der Meinung, dass wir das Risiko eingehen können.
Letzte Frage: Würden Sie es wieder tun?
Maximilian Heimstädt: Ja, aber beim nächsten Mal würde ich es mit dem Wissen aus diesem Pilotversuch etwas anders angehen. Zum Beispiel könnten wir Teile der Interviews, die wenig relevant für das Thema sind oder primär biografische Informationen enthalten, aus den Transkripten entfernen und dies nur in den Kontextinformationen vermerken. So könnten wir viel Zeit und Arbeit bei der Anonymisierung sparen. Ich glaube, wir könnten unsere Arbeitsabläufe dadurch effizienter gestalten.
Lukas Daniel Klausner: Ja, es ist nicht nur eine Frage der Effizienz, sondern auch aus ethischer und datenschutzrechtlicher Sicht wäre es eigentlich notwendig gewesen, hier stärker im Sinne der Datensparsamkeit zu handeln. Wir sollten während der Forschung überlegen, ob bestimmte Informationen wirklich notwendig sind. Diese sollten wir dann gar nicht erst aufzeichnen oder transkribieren. Positiv betrachtet besteht da eigentlich eine klare Synergie zwischen dem Prinzip der Datensparsamkeit und der Einfachheit der Nachnutzung.
Maximilian Heimstädt: Im Grunde ist das, was wir beschrieben haben, dasselbe wie bei jeder anderen qualitativen Forschungsmethode. Bei der ersten Ethnografie, die man als Doktorand durchführt, neigt man dazu, alles aufzuschreiben und steht kurz davor, in den Daten zu ertrinken. Man muss jedoch lernen, selektiv zu sein. Hier ist es ähnlich. Wir dachten, wir müssten alles aufzeichnen, um transparent zu sein und die Nachnutzung unserer Daten zu ermöglichen. Aber man muss pragmatischer sein. Wenn man diese Überlegungen in den Forschungsablauf integriert, würden wir es wieder tun.
Ich denke, „Pragmatismus“ wäre eine passende Überschrift. Es geht darum, Datensparsamkeit zu beachten, Kooperationspartner zu finden und Outsourcing zu nutzen, wo möglich. Auf diese Weise wird das Teilen von qualitativen Daten erleichtert.
Vielen Dank!
Das Interview wurde am 1. Februar 2024 geführt von Dr. Doreen Siegfried.
Über Maximilian Heimstädt:
Maximilian Heimstädt ist Organisationsforscher und derzeit an der Universität Bielefeld als Akademischer Oberrat tätig. Zudem leitet er am Weizenbaum-Institut in Berlin die Forschungsgruppe „Reorganisation von Wissenspraktiken“. Ab April 2024 wird er eine Professur für Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Digital Governance und Service Design, an der Helmut-Schmidt-Universität/Universität der Bundeswehr Hamburg antreten.
Kontakt: https://heimstaedt.org/
ORCID-ID: https://orcid.org/0000-0003-2786-8187
LinkedIn: https://www.linkedin.com/in/maximilian-heimst%C3%A4dt-66263427/
Über Lukas Daniel Klausner:
Lukas Daniel Klausner ist Mathematiker und kritischer Informatiker. Promoviert wurde er zum Thema Mengenlehre von der TU Wien. Als Forscher an der Fachhochschule St. Pölten untersucht er interdisziplinär die Wechselwirkungen zwischen Gesellschaft und Technologie. Seine Arbeit verbindet präzise mathematische und algorithmische Denkweisen mit einem ganzheitlichen Ansatz und einem Verständnis für die gesellschaftlichen und ethischen Fragen, die durch technologische Innovationen entstehen. Seine Forschungsinteressen umfassen Vorhersagetechnologien, marginalisierte Gemeinschaften, kritische Perspektiven auf Korrektheit, Medienkonsum und -produktion, Game Studies sowie die gesellschaftliche Einbettung von maschinellem Lernen und künstlicher Intelligenz. Zusammen mit Paola Lopez hat er den AK MatriX gegründet, den Arbeitskreis für Trans- und Interdisziplinarität in der Mathematik.
Kontakt: https://l17r.eu/
ORCID: https://orcid.org/0000-0003-3650-9733
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