Die Leopoldina als Begleiterin des Wandels hin zu Open Science

Interview mit Leopoldina-Präsidentin Prof. Dr. Bettina Rockenbach

Foto von Prof. Dr. Bettina Rockenbach

Foto: Anna Kolata für die Leopoldina


Gab es für Sie einen bestimmten Moment, in dem Sie das Thema Open Science erstmals bewusst wahrgenommen haben? Wann wurden Sie erstmals für Fragen von Transparenz und Offenheit in der Wissenschaft sensibilisiert?

BR: Einen konkreten Zeitpunkt kann ich ehrlich gesagt nicht benennen. Bis vor anderthalb Jahren war ich über acht Jahre lang Prorektorin für Forschung an der Universität zu Köln. In dieser Funktion war Open Science – unabhängig von meiner eigenen Forschung – ein wesentliches Thema.

Sind Sie durch Kolleg:innen auf das Thema Open Science aufmerksam geworden, oder haben Sie selbst irgendwann erkannt, dass mehr Offenheit in der Forschung vorteilhaft wäre?

BR: Offene Wissenschaft bietet klare Vorteile, besonders in der experimentellen Forschung. Das ist in der Wirtschaftsforschung bekannt. Ich arbeite selbst empirisch und sammle Daten – da ist es naheliegend, auch mit den Daten anderer zu arbeiten, eigene Analysen daran zu prüfen und mit den eigenen Ergebnissen zu kontrastieren. Gleichzeitig gehört es für mich dazu, eigene Daten der wissenschaftlichen Community zugänglich zu machen – aus Gründen der Transparenz, der Effizienz und der Nachvollziehbarkeit. Es geht um die Offenlegung der Auswertungsschritte, damit Ergebnisse tatsächlich repliziert werden können. In der Psychologie wurde dieses Thema früh aufgegriffen, in der Ökonomie etwas später. Aber auch hier hat die experimentelle Forschung die Relevanz von Replikation und Datenzugang zunehmend erkannt.

Sie sind noch relativ neu im Amt der Präsidentin der Leopoldina. Welche Bedeutung messen Sie dem Thema Open Science für die Arbeit der Akademie bei – insbesondere im Hinblick auf ihre Rolle innerhalb der Wissenschaftslandschaft?

BR: Die Leopoldina hat sich – sowohl im Rahmen der Allianz der Wissenschaftsorganisationen als auch in eigenen Stellungnahmen – wiederholt und klar zum Thema Open Science positioniert. Aus Sicht der Akademie handelt es sich dabei um ein Querschnittsthema von hoher Relevanz für die zukünftige Ausgestaltung wissenschaftlicher Praxis. Offene Wissenschaft fördert Transparenz, Effizienz und Zugänglichkeit. Die Wiederverwendbarkeit von Daten beschleunigt wissenschaftlichen Fortschritt und reduziert Redundanzen. Zugleich schafft Open Access neue Teilhabemöglichkeiten – insbesondere für Forschende an weniger gut ausgestatteten Institutionen weltweit. Open Science ist damit ein zentraler Baustein einer offenen, verantwortungsvollen Wissenschaftskultur.

Sie waren als Prorektorin an der Universität zu Köln aktiv an der Entwicklung von Open-Science-Grundsätzen beteiligt. Inwiefern fließen diese Erfahrungen in Ihre jetzige Arbeit an der Leopoldina ein?

BR: An der Universität zu Köln haben wir eine Open-Science-Richtlinie erarbeitet, die auf eine institutionelle Verankerung entsprechender Prinzipien zielte. Die Arbeit an der Leopoldina unterscheidet sich insofern, als die Akademie selbst so gut wie keine primäre Forschung betreibt. Ihre Tätigkeit konzentriert sich auf wissenschaftsbasierte Stellungnahmen, die auf der Expertise und den Publikationen ihrer Mitglieder beruhen. Diese Stellungnahmen reflektieren den Stand der Forschung, greifen Entwicklungen wie Open Science auf und werden selbstverständlich transparent veröffentlicht. Die strukturelle Nähe zum wissenschaftlichen Diskurs bleibt also erhalten, auch wenn die Rolle eine andere ist als an einer forschenden Universität.

Sie haben eben die Stellungnahmen der Leopoldina angesprochen. Vor kurzem – vor etwa zwei Wochen – wurde ein Diskussionspapier zur direkten Finanzierung und Evaluation wissenschaftlicher Zeitschriften veröffentlicht. Welche Rolle sieht die Leopoldina in der Transformation bestehender Publikationsmodelle hin zu Open Access?

BR: Das Diskussionspapier greift eine zentrale Problematik auf, die seit Längerem im wissenschaftlichen Publikationswesen besteht. Wissenschaftler:innen leisten einen erheblichen Beitrag zur Qualitätssicherung wissenschaftlicher Zeitschriften durch das Verfassen von Artikeln und das Peer Reviewing, und das unentgeltlich. Gleichzeitig sehen sie sich mit hohen Kosten konfrontiert: entweder über Abonnementgebühren oder über Autorengebühren im Open-Access-Modell – die APCs. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob dieses System noch zeitgemäß ist – zumal redaktionelle und technische Abläufe heute deutlich effizienter organisiert werden können als früher. Die von der Arbeitsgruppe entwickelte Idee zielt daher auf ein alternatives Finanzierungsmodell. Die Leopoldina unterstützt diese Diskussion ausdrücklich und versteht sich hier als Impulsgeberin für eine Weiterentwicklung des wissenschaftlichen Publikationssystems im Sinne von Offenheit, Fairness und Nachhaltigkeit.

Im Juni hat ein erstes Symposium zur Weiterentwicklung des im Diskussionspapier skizzierten Modells stattgefunden. Wenn daraus konkrete Vorschläge entstehen – sieht sich die Leopoldina dann in der Rolle, diese gegenüber politischen Entscheidungsträgern wie dem BMBF aktiv zu vertreten? Versteht sie sich als treibende Kraft in diesem Transformationsprozess?

BR: Die Leopoldina versteht sich durchaus als Impulsgeberin und Unterstützerin dieses Diskurses. Unsere Aufgabe ist es, wissenschaftsgeleitete Ideen in die öffentliche und politische Debatte einzubringen – das schließt die Transformation von Publikationsmodellen ausdrücklich mit ein. Die konkrete Umsetzung, insbesondere in finanzieller und administrativer Hinsicht, liegt jedoch nicht im Zuständigkeitsbereich der Leopoldina. Wir verfügen weder über die Ressourcen noch über die institutionellen Strukturen, um ein solches Modell selbst zu tragen oder zu verwalten. Dafür wären andere Akteure zuständig – etwa die Deutsche Forschungsgemeinschaft oder das Bundesforschungsministerium. Unsere Rolle liegt also vor allem darin, solche Initiativen anzustoßen, wissenschaftlich zu untermauern und in geeignete politische Kontexte einzuspeisen. Die operative Umsetzung muss dann von den dafür vorgesehenen Institutionen erfolgen.

Versteht sich die Leopoldina in diesem Zusammenhang als treibende Kraft – als Institution, die eine Vision formuliert, den Handlungsbedarf klar benennt und gezielt Akteur:innen aus dem Wissenschafts- und Publikationssystem zusammenbringt?

BR: Die Leopoldina versteht sich grundsätzlich als Einrichtung, die wissenschaftsbasierte Handlungsempfehlungen formuliert. Ob und wie diese umgesetzt werden, hängt vom jeweiligen Adressaten ab: Bei Politikberatung entscheidet die Politik, bei gesellschaftsbezogenen Themen die Öffentlichkeit oder einzelne Institutionen. In diesem Fall handelt es sich um eine wissenschaftsinterne Fragestellung. Die Wissenschaft selbst muss das vorgeschlagene Modell für tragfähig und sinnvoll halten – und bereit sein, es umzusetzen, wenn es überzeugender ist als bestehende Strukturen.

Wenn wir von dem Leopoldina-Papier zum Publikationssystem ausgehen, bewegen wir uns am Ende des Forschungsprozesses. Am Anfang steht eine Idee, dann folgt die Forschung – sei es experimentell, empirisch oder theoretisch. Oft vergehen Jahre, bevor Ergebnisse veröffentlicht werden. Arbeiten weitere Gruppen an Konzepten, die auf vorgelagerte Phasen der Forschung zielen?

BR: Ich denke, das Thema Publikationssystem – insbesondere im Kontext technischer Entwicklungen und der Umstellung auf Open Science – wird bereits stark von den Fachcommunities selbst vorangetrieben. Neue Ansätze entstehen nicht isoliert, sondern im Austausch: auf Tagungen, in Fachgesprächen, im internationalen Diskurs. Wissenschaftler:innen bringen ihre Ideen frühzeitig ein, diskutieren sie und entwickeln sie weiter. Insofern ist die Vorstellung, dass Forschungsergebnisse über Jahre hinweg intern bleiben, zunehmend überholt. Der Wandel hin zu mehr Offenheit beginnt nicht erst mit der Publikation – er durchdringt den gesamten Prozess.

Wo sehen Sie derzeit die größten Herausforderungen in der Wissenschaftskommunikation? Wissenschaftliche Texte sind oft hochkomplex – selbst Fachkolleg:innen aus angrenzenden Disziplinen benötigen Kontext. Welche Chancen und Schwierigkeiten ergeben sich aus Ihrer Sicht bei der Vermittlung wissenschaftlicher Inhalte an ein breiteres Publikum?

BR: Wissenschaftskommunikation ist für die Leopoldina ein zentrales Thema. Es geht darum, unsere Stellungnahmen so aufzubereiten, dass sie in der Gesellschaft verstanden und eingeordnet werden können. Das ist grundsätzlich wichtig – und angesichts zunehmender Wissenschaftsskepsis bis Wissenschaftsfeindlichkeit gewinnt es noch an Bedeutung. Es braucht Angebote, die nachvollziehbar machen, was Wissenschaft leistet und welchen Beitrag sie zur Orientierung in gesellschaftlichen oder persönlichen Entscheidungsprozessen leisten kann. Das betrifft sowohl individuelle Einschätzungen als auch politische Urteilsbildung. Wir versuchen, genau hier anzusetzen.

Sie sind Verhaltensökonomin mit langjähriger Forschungserfahrung. Welche Perspektive bringt Ihr Fach auf die Open-Science-Transformation? Wo sehen Sie verhaltensbezogene Hebel, die bislang wenig genutzt werden?

BR: Ich begrüße grundsätzlich, dass Forschungsdaten geteilt werden – insbesondere in einer Weise, die Replikationen ermöglicht. Ein Aspekt, über den wir noch nicht gesprochen haben, ist die Präregistrierung. Sie setzt bereits sehr früh im Forschungsprozess an. Aus verhaltensökonomischer Sicht sehe ich hier Chancen, aber auch Risiken. Persönlich habe ich Bedenken, dass durch zu strikte Präregistrierungspraktiken kreative und unerwartete Befunde an Sichtbarkeit verlieren. Wenn nur noch das publiziert wird, was zuvor exakt geplant war, könnten gerade jene Ergebnisse untergehen, die zwar nicht antizipiert, aber wissenschaftlich hoch relevant sind. Der Erkenntnisgewinn in der Forschung lebt auch von Überraschungen – diese dürfen durch formale Vorgaben nicht verdrängt werden.

Nach meinem Verständnis fordern Befürworter:innen der Präregistrierung keine starre Bindung an den ursprünglichen Plan. Korrekturen oder Ergänzungen sind jederzeit möglich, auch eine nachträgliche Registrierung. Ziel ist es, sogenanntes p-hacking zu vermeiden – also das gezielte „Herumfischen“ in den Daten, bei dem nicht-signifikante Ergebnisse unterdrückt und nur passende veröffentlicht werden. Präregistrierung soll mehr Transparenz schaffen: Die Forschungsfrage, die Datenbasis und das methodische Vorgehen werden im Vorfeld offengelegt, um die Suche nach Signifikanz einzuordnen.

BR: Das stimmt – aber in der Praxis begegnet man dennoch Einschränkungen. Es kommt vor, dass Reviewer monieren: „Diese Analyse war nicht präregistriert.“ Und dann muss man erklären: Nein, weil wir diesen Befund so nicht erwartet haben – aber genau das macht ihn interessant. Der wissenschaftliche Erkenntnisprozess verläuft nicht immer linear. Überraschungen sind oft der Motor für neue Einsichten. Deshalb plädiere ich für Augenmaß: Präregistrierung ist ein wichtiges Instrument für Transparenz, darf aber nicht dazu führen, dass das Unerwartete keinen Platz mehr hat.

Wenn Sie auf Ihre Zeit als aktive Ökonomin zurückblicken: gab es Beispiele aus Ihrer eigenen Forschungspraxis, bei denen der offene Austausch von Code, Protokollen, Daten oder Publikationen für Sie besonders bereichernd war?

BR: Ja, wir hatten ein vielzitiertes Paper in Science mit, wie wir in eigenen Replikationsstudien fanden, sehr robusten Ergebnissen. Wir haben selbst darauf aufgebaut und weitere Studien durchgeführt. Einige Jahre später – ich glaube, es lagen etwa zehn bis fünfzehn Jahre dazwischen – kam ein internationales Konsortium auf uns zu. Die Kolleg:innen baten um unsere Daten, das experimentelle Protokoll und den Code, um die Studie in sieben Ländern zu replizieren. Die sehr gute Nachricht war, dass unsere Ergebnisse reproduziert wurden, auch nach vielen Jahren und von unterschiedlichen internationalen Gruppen. Das war wirklich eindrucksvoll und auch sehr erfreulich.

Aber ich möchte eins betonen: In den Verhaltenswissenschaften muss man bei Replikationen vorsichtig sein. Wir untersuchen menschliches Verhalten – und das verändert sich über die Zeit. Wenn sich ein Ergebnis nach 20 Jahren nicht mehr replizieren lässt, bedeutet das nicht zwangsläufig, dass es damals falsch war. Es ist schlicht kein physikalisches Gesetz, das zeit- und kontextunabhängig gilt. In unserem Fall waren die Ergebnisse stabil – aber das ist nicht immer so. Die Diskussion über eine Replikationskrise muss deshalb differenziert geführt werden: Es gibt fragwürdige Befunde mit zu kleinen Stichproben, aber es gibt auch Befunde, die sich verändern, weil sich Kontexte verändern.

Ich würde gern den Blick in die Zukunft richten. Sie haben sicher selbst Doktorand:innen betreut. Wenn Sie heute jungen Ökonom:innen oder Wissenschaftler:innen ohne Open-Science-Vorerfahrung Empfehlungen geben sollten – was würden Sie raten? Worauf sollten sie achten, wenn sie sich mit Themen wie Offenheit und Transparenz in der Forschung beschäftigen?

BR: In unserem Fach gibt es mittlerweile klar etablierte Standards, die von der Präregistrierung bis zur Bereitstellung der Forschungsergebnisse reichen. Ob man zusätzlich die Gebühren für eine Open-Access-Publikation aufbringen kann, hängt von den jeweiligen Rahmenbedingungen an der eigenen Universität ab, insbesondere wenn das Journal selbst keinen Open Access anbietet. Aber die übrigen Schritte sind weitgehend verpflichtend geworden. Wer diese Standards nicht einhält, hat kaum noch Chancen, in renommierten Fachzeitschriften zu publizieren. Insofern ist der Handlungsrahmen durch die führenden Journals deutlich vorgegeben.

Wir haben 2023 eine Untersuchung zu Open Science in der Wirtschaftsforschung durchgeführt und dabei verschiedene Praktiken analysiert – von der Registrierung bis zum Teilen von Forschungsdaten. Mein Eindruck ist, dass weiterhin eine gewisse Unsicherheit im Kontext Open Science besteht. Häufig steht die Sorge im Raum, jemand könnte beispielsweise einen Codierungsfehler entdecken oder einen anderen Fehler aufzeigen. Die Angst vor Kritik scheint größer zu sein als die Bereitschaft, die Chancen eines offenen wissenschaftlichen Dialogs zu nutzen.

BR: Das kann durchaus eine Rolle spielen. Ein weiterer Punkt ist sicherlich: Habe ich die Daten bereits so ausgewertet, wie ich es geplant hatte? Oder gibt es noch Fragestellungen, die ich selbst bearbeiten möchte, bevor andere es tun? In solchen Fällen zögern Forschende möglicherweise, ihre Daten frühzeitig zu teilen. Allerdings stellen führende Journals zunehmend Anforderungen: zur Präregistrierung, zur Offenlegung der Analyseprozesse und zur Angabe eines Repositoriums für die Nachnutzung der Daten. Auch wenn das noch nicht überall durchgesetzt ist, wird es perspektivisch zum Standard werden. Gleichzeitig zeigt die aktuelle Entwicklung – etwa in den USA –, dass man sich nicht allein darauf verlassen sollte, dass Daten in einem Repositorium sicher hinterlegt sind. Es kommt vor, dass Daten verloren gehen oder Forschende den Zugriff auf ihre eigenen Datensätze verlieren. Daher ist es ratsam, zusätzlich redundante Sicherungen zu behalten.

Vielen Dank!

*Das Gespräch wurde geführt von Dr. Doreen Siegfried am 20. Mai 2025.

Über Professorin Dr. Bettina Rockenbach:

Prof. Dr. Bettina Rockenbach ist seit dem 1. März 2025 Präsidentin der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina. Sie ist die erste Frau und zugleich die erste Wirtschaftswissenschaftlerin an der Spitze der Akademie. Rockenbach ist Professorin für Experimentelle Wirtschafts- und Verhaltensforschung an der Universität zu Köln und Senior Research Fellow am Max-Planck-Institut zur Erforschung von Gemeinschaftsgütern in Bonn.

Rockenbach studierte Mathematik, Volkswirtschaftslehre und Informatik an der Universität Bonn und promovierte 1993 bei Nobelpreisträger Reinhard Selten. Ihre Habilitation schloss sie 1999 ebenfalls in Bonn ab. Vor ihrer Berufung nach Köln im Jahr 2011 war sie Professorin an der Universität Erfurt. Sie ist seit 2013 Mitglied der Leopoldina und war von 2015 bis 2023 Prorektorin für Forschung an der Universität zu Köln.

Kontakt: https://www.leopoldina.org/ueber-uns/ueber-die-leopoldina/praesidium-und-gremien/praesidium/praesidentin/

LinkedIn: https://www.linkedin.com/in/bettina-rockenbach-8a888a366/




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