Wie eine Open Science Agenda für eine Disziplin entsteht
Tobias Dienlin über seine Open-Science-Erfahrungen
Die drei wesentlichen Learnings:
- Eine Open-Science-Agenda braucht prominente Co-Autor:innen aus der Fachdisziplin.
- Eine Open-Science-Agenda ist sehr gut sichtbar, wenn sie in einem anerkannten Journal veröffentlicht wird.
- Eine Open-Science-Agenda braucht Wissenschaftler:innen, die das Thema mit viel Langmut vorantreiben.
Wie sind Sie denn generell zum Thema Open Science gekommen?
TD: Also wenn ich es mit einem Wort beschreiben müsste, würde ich sagen Twitter. Aber auch Leidenschaft, Interesse und totale Überzeugung. Open Science ist wirklich etwas, was mich in meinem tiefsten Inneren anspricht, und ich habe durchaus eine gewisse Weltverbesserer-Ader. Ich war bisweilen sehr enttäuscht von üblichen Forschungspraktiken, die konträr dem Open-Science-Gedanken stehen. Ich habe viele Probleme schon länger wahrgenommen, und als die Open Science Bewegung dann Momentum aufgenommen hat, vor allem in der Psychologie, dann war das für mich maximale intrinsische Motivation, dabei zu sein. Open Science ist für mich keine Arbeit, es ist etwas, was mich interessiert. Und irgendwann kam ich an den Punkt, dass ich das Thema auch mehr in die Kommunikationswissenschaft einbringen wollte. Ich habe eine gewisse Diskrepanz beobachtet zwischen der Bedeutung, die Open Science für mich hat, und der kompletten Ignoranz in der Kommunikationswissenschaft. Ich wollte das dann nicht mehr nur über Twitter diskutieren, sondern in unserer Community breiter erörtern. Ich habe schließlich ein paar Kolleg:innen zusammengetrommelt, die das ähnlich sehen. Und dann hatten wir im Zuge dessen ein groß angelegtes Paper geschrieben, um den Open-Science-Gedanken auch in unser Fach zu bringen. Der Titel ist „An Agenda for Open Science in Communication“.
Wie kam es zu Ihrem Agenda Paper? Waren Sie letztlich der Initiator?
TD: Ja, ich war der Initiator. Wir hatten eine Core Group aus acht Wissenschaftler:innen. Es gab am Ende vor allem noch drei andere Kollegen neben mir, die das wirklich richtig vorangetrieben haben. Alle Autor:innen des Papers haben einen Beitrag geleistet, aber die Arbeit war nicht gleich verteilt. Ich habe recht früh in dem Prozess angeboten, die Erstautorenschaft zu übernehmen. Das bedeutet, dass man sich verantwortlich fühlt, dass man proaktiv herangeht, dass man Entscheidungen trifft. Es ist schon so, dass ich das Paper als Hauptverantwortlicher vorangetrieben habe, aber es gab eben auch sehr viel Support durch die Autorenschaft. Der Letztautor Claes de Vreese war zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der Präsident der Dachgesellschaft ICA, also der International Communication Association. Dies gibt dem Paper natürlich politisch ein ganz anderes Gewicht. Das war sehr wichtig. Viele der Autor:innen haben manche Praktiken, die wir empfehlen, schon selbst angewandt, so dass sie berechtigterweise sagen können „Ich stehe für Open Science“. Es ist eher ein Awareness Creating Paper. Und um ernst genommen zu werden, hat es geholfen, dass man prominente Vertreter:innen des Faches dabei hatte.
Haben Sie die prominenten Vertreter wie zum Beispiel Claes de Vreese aktiv angeschrieben und um Kooperation gebeten?
TD: Ja, wir haben in einem kleineren, informellen Kreis begonnen. Ich kann mich auch noch gut an den Moment erinnern, wo wir gesagt haben „Wir machen das jetzt“. Und dann war klar, mit wem man darüber spricht, worauf wir uns bei der nächsten internationalen Konferenz getroffen und Namen gesammelt haben. Es war von vornherein klar, dass wir das so groß machen wollten. Wir wollten es inklusiv halten, also sehr offen, auch divers nach Möglichkeit. Es gibt natürlich einen klar westlich, männlich, weißen Bias in der ganzen Fachgesellschaft, aber uns war trotzdem wichtig, auch Wissenschaftler:innen mit anderen Hintergründen anzusprechen. Wir haben dann aktiv Leute angeschrieben und haben ein bisschen das Projekt gepitcht und gefragt, ob sie dabei sein wollen. Dann sind wir einen kollaborativen Schreibprozess gegangen mit entsprechend verteilten Aufgaben. Aber damit es einen einheitlichen Fluss gibt, haben ein Kollege und ich den Großteil gemeinsam geschrieben und redigiert. Alle Beteiligten haben extrem viele Gedanken gesammelt und beigesteuert, und die Kolleg:innen haben diese Gedanken auch mit entsprechenden Papers unterfüttert, so dass sehr viele gute Paper aus vielen Ecken zusammenkamen.
Das Paper ist schon eine Art Manifest, das man auch unterzeichnen kann. Wie haben Sie das Paper letztlich in der Kommunikationswissenschaft gestreut? Wie haben Sie versucht, möglichst viele Unterzeichner:innen zu gewinnen?
TD: Es sind zwar einige Unterzeichner:innen, aber ich finde, so viele sind es dann wieder auch nicht. Gemessen an dem Stellenwert des Papers finde ich die Resonanz okay. Wir haben immer gesagt „think big“. Wir haben uns an das Flagship Journal der Kommunikationswissenschaften gewandt, das ist das Journal of Communication. Wir hatten Glück, dass wir auf einen Editor gestoßen sind, der dem Ganzen offen gegenüberstand. Das JOC akzeptiert eigentlich nur originäre Research Paper, aber der Editor hat schon relativ am Anfang erkannt, dass das kein übliches Paper ist. Er war angetan von der Idee, dieses Thema aufzugreifen und er hat es an das komplette Editorial Board geschickt. Also gar nicht an externe Reviewer:innen, was normalerweise üblich ist. Und er hat uns auch gesagt, dass er daraus ein Special Issue machen möchte, als Leading Paper zum Thema Open Science in der Kommunikationswissenschaft. Durch die Veröffentlichung hatte das Paper ein sehr großes Alleinstellungsmerkmal und wurde auch im Fach sehr stark wahrgenommen und sehr viel zitiert. Dadurch und auch durch viele Vorträge ist das Paper mehr und mehr sichtbar geworden. Ich tweete auch viel über das Paper und über das Thema Open Science und halte viele Vorträge.
Würden Sie den Wirtschaftswissenschaften empfehlen, den Prozess ähnlich zu gestalten?
TD: Ich hatte ja schon gesagt, dass ich als Erstautor das Paper und das Thema gepusht habe. Und ich habe gemerkt, das braucht es auch. Es braucht einfach Wissenschaftler:innen, die zum Beispiel Ihre Meinung auf Twitter kundtun und es braucht die Wissenschaftler:innen, die Vorträge über Open Science halten. Ich merke eben auch, dass manche Mitautor:innen eher ruhig sind. Daher braucht es Wissenschaftler:innen, die Open Science leben und auch vorantreiben. Ich denke aber auch, dass die Gedanken so stark sind, dass sie sich eh durchsetzen werden. Ich habe unser Unterfangen nicht als riskant angesehen. Die Zeit ist einfach reif für diese Idee.
Was ist Ihr Tipp für Nachwuchswissenschaftler:innen, die die intrinische Motivation haben, Open Science zu machen, dann aber irgendwann ausgebremst werden, wenn es um die nächste Stelle geht?
TD: Ja, es sind zwei Dinge: Das Idealistische und das Pragmatische. Das eine ist das Erkenntnisorientierte, das andere das Karrieristische. Ich glaube, es ist wie im ganzen Leben natürlich eine Herausforderung, die Balance zu finden zwischen Überzeugung und Pragmatismus, damit man auch mal vorwärts kommt. Das heißt, dass man manchmal auch individuelle Entscheidungen treffen muss, die man so vielleicht nicht auf seinem Weg eingeplant hat. Ich habe aber keinen Respekt vor denjenigen, die nur an ihrer Karriere interessiert sind. Wir werden als Wissenschaftler:innen von der Gesellschaft dafür bezahlt, Erkenntnisse zu produzieren. Die Gesellschaft ist nicht daran interessiert, dass ich als Einzelperson erfolgreich bin, sondern dass Wissenschaft gemacht wird, dass forschungsbasierte Lösungen entwickelt werden. Wenn wir Wissenschaftler:innen den Karren an die Wand fahren, weil wir nur an uns selbst interessiert sind und damit am Ende nicht belastbare Dinge produzieren, dann haben wir ein Problem. Eine der zentralen Währungen im Wissenschaftsbetrieb ist Anerkennung. Wir müssen also überlegen, wen wir anerkennen. Ich nehme wahr, dass gerade Nachwuchswissenschaftler:innen, die auch mal gegen den karrieristischen Strom schwimmen und nach ihrer Überzeugung leben, viel Anerkennung bekommen. Das sind auch die Wissenschaftler:innen, die ich selbst mehr respektiere und honoriere. Es gibt aber auch die Gefahr des Open Washing. Die Leute, die heute Open Science machen, die Early Adopter, das sind andere Menschen, als diejenigen, die es als Late Majority später machen. Open Science kann die Forschungsqualität erhöhen, muss es aber nicht primär. Open Science hilft vor allem, dass es uns mehr Tools gibt, die Forschung zu evaluieren. Open Science ist aber keine Garantie für gute Forschung. Das muss uns einfach klar sein.
Hat die jetzige Generation der jungen Wissenschaftler:innen, die so wie Sie, das Zepter in die Hand nehmen, eine Chance, das Wissenschaftssystem zu revolutionieren? Oder ist die Entwicklung generationenunabhängig?
TD: Ich würde sagen, dass es schon korreliert, aber nicht besonders stark. Es gibt einige Open-Science-Proponent:innen, die die Wissenschaft verlassen haben, weil der Wissenschaftsbetrieb nicht mehr ihren Werten entspricht. Die Open-Science-Bewegung ist primär eine Bottom-up-Bewegung, eine Graswurzel-Bewegung. Open Science wird in den PhD-Clubs diskutiert. Und es besteht eine gewisse Chance, dass die Generation der intensiv Forschenden, und das sind nun mal die Jungen, die älteren Forschenden mitreißen, die eher die Wissenschaftsmanager:innen sind. Es gibt auch einige der älteren Generation, die die Idee inhaltlich sehr teilen und die sich auch freuen, dass es jetzt endlich mehr Raum für Open Science gibt. Daher gibt es keine harte Grenze zwischen den Generationen, weil die Argumente schon sehr ethische sind. Gleichwohl hatte ich damit gerechnet, dass wir auf unser Paper mehr Pushback von den erfolgreichen quantitativen Wissenschaftler:innen bekommen. Da wir die ja damit indirekt auch herausfordern, ihre Forschung anders zu machen. Aber da kam fast gar nichts.
Sie schreiben in Ihrem Agenda Paper auch, dass die Wissenschaft neue Metriken braucht. Wie stellen Sie sich das idealerweise vor?
TD: Ich würde sagen, Open Science muss ein weiteres Entscheidungskriterium werden, in einer Matrix, die es ja bereits gibt. Also Open Science neben thematischer Passung, Drittmittelerfolg, Publikationserfolge, Sympathie. Dann Auftreten beim Präsentieren und Verhandeln. Und als weiteres Kriterium muss man dann halt natürlich Open Science aufnehmen, das sollte aber auch nicht das einzige sein.
Open Science ist ja ein Dachbegriff für zahlreiche Phänomene wie Open Access, Open Data, Open Educational Resources, Open Methodology, Open Source bis hin zur Wissenschaftskommunikation in die Gesellschaft. Wie kann man das reduzieren auf ein Kriterium in der schon existierenden Matrix?
TD: Mehr ist natürlich besser als nichts, aber man muss nicht gleich alles machen, was Sie erwähnt haben. Ich beschäftige mich auch mit der Frage, auf welche Art und Weise man auftritt, wie entschlossen. Lädt man eher ein? Oder fordert man eher ein? Ich finde, das muss sich ein bisschen die Balance halten, weil man auch nicht als Aggressor wahrgenommen werden will. Ein Statement zur eigenen Open-Science-Praxis in zum Beispiel Berufungsgesprächen fände ich super, auch als Rückfrage im Hearing für alle Kandidat:innen, damit sie sich dazu positionieren. Die Berufungskommission kann zum Beispiel auch vorab schon mal in den Lebensläufen schauen, was hinsichtlich Open Science bereits gemacht wurde. Dann bewegt sich der Tanker langsam voran.
Wenn man eine ganze Fachdisziplin wie die Kommunikationswissenschaft oder die Wirtschaftsforschung transformieren möchte, welche Austauschformate haben sich da bspw. in der Kommunikationswissenschaft Ihres Ermessens etabliert? Was sind gute Dialogformate, um das Thema nachhaltig in die Köpfe zu bringen?
TD: Twitter wird zunehmend der Markplatz der Wissenschaftler:innen. Das nimmt über Disziplinen hinweg zu. Als ich mit Twitter begonnen habe, waren dort die Coolen und die Überzeugungstäter:innen, aber nicht die Karrierist:innen. Die kamen jetzt erst in den letzten zwei-drei Jahren hinzu. Twitter ist also sehr relevant. Ein weiterer Faktor sind Publikationen und Reviews. Wissenschaftler:innen wollen Publikationen, und wenn man als Reviewer kritisch anmerkt, dass Open Science fehlt und ggf. das Paper deswegen sogar ablehnt, optimieren die Wissenschaftler:innen. Diskursive Formate eignen sich vor allem, um das Thema zu streuen. Man erreicht aber leider doch meist diejenigen, die sich eh schon dafür interessieren. Auch Formate wie diese Interviewreihe sind förderlich.
Wo sehen Sie die Rolle der Wissenschaftspolitik? Würden Sie sagen, die Wissenschaftspolitik sollte mehr die Daumenschrauben anziehen oder würde dies Open Science Washing befeuern?
TD: Ich glaube, mehr hilft mehr. Ich finde das auf jeden Fall sinnvoll und ich glaube, dass das eben mehr von außerhalb kommen muss. Drittmittel sind eine Riesenchance für Open Science, weil das neben Publikationen wahrscheinlich der wichtigste Aspekt für die Karriere ist. Den Drittmittelgebern geht es ja nicht um die Karriere der Wissenschaftler:innen, sondern die wollen Erkenntnisse fördern. Ich glaube, wenn die Wissenschaftspolitik beispielsweise sagen würde, geförderte Wissenschaftler:innen müssen im Diamant Open Access veröffentlichen, um dieses Geld zu bekommen, dann würden die Wissenschaftler:innen dies auch machen. Im Publikationswesen ist es vollkommen absurd, welche Margen private Verlage haben und wie viel Geld die Steuerzahler:innen für die Forschung ausgeben müssen. Was aber unnötig wäre, wenn die Journals von den Fachgesellschaften beispielsweise herausgegeben würden und kein kapitalistisches System dahinter stünde. Wir als Wissenschaftler:innen wollen ja nur der Anerkennung wegen in diese Journals, wir bekommen dafür kein Geld. Wenn wir es schaffen könnten, die Journals in die Hand der Wissenschaft zu bringen, z.B. der Fachgesellschaften, dann wäre das ein großer Schritt.
Ist Open Science aus Ihrer Sicht eine Frage des Wissens über Tools und Möglichkeiten? Oder ist es eher eine Frage der Akzeptanz?
TD: Klar, ganz viel ist erst einmal Wissen. Man muss zunächst einmal Informationen zum Thema Open Science verteilen und multiplizieren. Ich werde auch nicht müde, in meinen Open-Science-Vorträgen immer wieder von vorn anzufangen um einfach diese Awareness zu kreieren, gerade eben bei den älteren Generationen. Denn es ist super relevant, zuerst ein Problembewusstsein dafür zu schaffen. Ich habe einen unfassbar großen Respekt vor Brian Nosek, weil es ihm gelungen ist, Open Science Framework so nutzerfreundlich zu gestalten, dass es sehr einfach ist, es zu nutzen. Es ist wichtig, dass man die Anwendungen auch nutzbar macht. Ein paar Sachen sind aber auch einfach schwerer. Coden ist zum Beispiel eine neue Kompetenz, die Wissenschaftler:innen entwickeln müssen, Programmieren lernen, statistische Poweranalysen machen und so weiter. Aber gleichwohl wird das dann auch zu einem neuen Distinktionsmerkmal.
Wie etabliert man Open Science zum Standard in der Praxis?
TD: Es ist wichtig, dass auch die coolen Wissenschaftler:innen vertreten sind. Open Science muss cool sein, Freude machen, spannend sein, so dass ich auch Lust habe, das zu machen. Ich glaube am Ende aber, dass alles, was hilft, Widerstände zu reduzieren und die Arbeit angenehmer zu machen, hilfreich ist.
Vielen Dank!
Das Interview wurde geführt von Dr. Doreen Siegfried.
Das Interview wurde geführt am 23.02.2022.
Über Prof. Dr. Tobias Dienlin
Prof. Dr. Tobias Dienlin arbeitet an der Universität Wien am Institut für Kommunikationswissenschaft als Assistenz Professor für Interaktive Kommunikation. Zuvor arbeitete Tobias Dienlin an der Universität Hohenheim, wo er 2017 zum Thema „The Psychology of Privacy“ promovierte. Von 2006 bis 2012 studierte Tobias Dienlin Psychologie an der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz.
Inhaltlich forscht Tobias Dienlin rund um das Thema Privatheit und Wohlbefinden im Kontext der Nutzung neuer sozialer Medien. Als Querschnittsthema interessiert sich Tobias Dienlin ebenso für den Bereich Open Science.
ORCID-ID: https://orcid.org/0000-0002-6875-8083
Twitter: @tdienlin
GitHub: https://github.com/tdienlin
LinkedIn: https://www.linkedin.com/in/tobias-dienlin-a216a993/
ResearchGate: https://www.researchgate.net/profile/Tobias-Dienlin