Open Science darf kein bloßes Regelwerk werden

Hans-Bernd Brosius über Wissenschaftskommunikation und Open Science

Porträt von Prof. Dr. Hans-Bernd Brosius

Die drei wesentlichen Learnings:

  • Medien suchen Themen nicht nach Relevanz aus, sondern nach Verkaufbarkeit. Selbst Medien, die es gar nicht nötig haben, orientieren sich an der Quote.
  • Wer gute Wissenschaftskommunikation machen möchte, muss sich überlegen, welchen Nutzen die Forschungsergebnisse für die Gesellschaft haben.
  • Wenn Forschende ihre wissenschaftlichen Ergebnisse an außer-wissenschaftliche Rezipient:innen kommunizieren wollen, dann sollten sie sich fragen: Wer genau will eigentlich was von mir wissen und warum? Oft müssen Forschungsergebnisse sehr unterschiedlich präsentiert werden – je nach Zielgruppe.

Sie leiten seit vielen Jahren den Lehrstuhl Kommunikationswissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München und haben sich mit zahlreichen Kommunikationsphänomenen beschäftigt. Wie betrachten Sie als Kommunikationswissenschaftler die Entwicklungen rund um Open Science?

HBB: Nachvollziehbarkeit ist eines der wichtigsten Kriterien für gute Wissenschaft. Nachvollziehbarkeit ist der Spirit der Wissenschaft überhaupt. Letztlich ist dies auch genau das, was wir uns unter Open Science wünschen, dass die Daten zur Verfügung stehen, dass die Studieninformationen vollständig sind, dass kein p-Hacking betrieben wird usw. Mein Kritikpunkt ist jedoch, dass wir durch unser Qualifikationssystem Anreize für Wissenschaftler:innen setzen, die es dann erst erforderlich machen, dass man die Fehlentwicklungen durch Open Science korrigiert. Open Science darf kein Regelwerk werden, das den ohnehin schwierigen Publikationsprozess noch weiter erschwert, vor allem für Forschende in der Karrierephase. Wenn Open Science ein bloßes Regelwerk in einem ansonsten unveränderten Wissenschaftssystem ist, dann werden Wissenschaftler:innen kreative Wege finden, diese „Hürden“ zu umgehen. Ich vermute, dass Open Science als Regelwerk die Open-Science-Bewegung in ihrem lauteren Kern sozusagen irgendwann auch anfängt zu delegitimieren. Wir müssen also die Bedingungen, unter denen publiziert wird, die Bedingungen, unter denen sich Leute qualifizieren, so verändern, dass wirklich die guten Leute eine gute Chance haben. Das erreicht man meiner Meinung nur, wenn wir an diesen Bedingungen etwas ändern.

Wenn Sie sagen, dass das ganze Wissenschaftssystem letztlich umgekrempelt werden muss, wo sehen Sie die maßgeblichen Treiber?

HBB: Hier sind zunächst Personen wie ich in der Pflicht. Ich versuche mich in meinem kleinen Kosmos auch entsprechend zu verhalten. Leute, die darüber bestimmen, wer auf eine Berufungsliste kommt, wer auf eine Mitarbeiterstelle kommt usw., die Leute haben es natürlich viel leichter, Open Science voranzutreiben. Wir machen uns das natürlich in den Berufungskommissionen einfach, wenn wir schlicht nach h-Index ranken. Dies liegt auch daran, dass die Wirtschafts- und Sozialwissenschaften in den letzten Jahren auch überall sehr ausgebaut wurden und es wirklich viele gute Bewerber:innen gibt, die spannende Arbeiten machen. Aber diese Arbeit wird in ein quantitatives Tabellensystem überführt, das dann die vielen positiven Dinge einebnet.

Sie waren 20 Jahre Dekan der Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München, einer der Exzellenzuniversitäten in Deutschland. Was wäre Ihrer Meinung nach ein guter Weg, den Open-Science-Gedanken zu intensivieren?

HBB: Ich habe nicht die ideale Lösung, sonst hätte ich das wahrscheinlich prominenter kommuniziert. Ich denke aber, wir müssen Kriterien wie Qualität, Originalität und Innovation flankieren mit Open-Science-Kriterien wie Nachvollziehbarkeit, Replizierbarkeit usw. Beide Stränge dürfen aber nicht parallel nebeneinanderherlaufen, sondern müssen miteinander verzahnt werden. Denn nur, weil jemand viel publiziert, ist er oder sie noch lange keine innovative Wissenschaftler:in.

Das Thema Wissenschaftskommunikation ist seit 2020 sehr stark ins Bewusstsein der Öffentlichkeit geraten und wird auch unter Kommunikator:innen intensiv diskutiert. Wo sehen Sie die Zukunft der Wissenschaftskommunikation aus Ihrer Sicht als Kommunikationswissenschaftler?

HBB: Oft wird Wissenschaft als Abenteuerland dargestellt. Es pufft und zischt etwas und wir fokussieren uns auf den Guck-mal-Effekt. Das ist ganz nett, aber es ist nicht unbedingt Wissenschaftskommunikation. Ich denke, dies kann nicht der Kern von Wissenschaftskommunikation sein, sondern der Kern ist eher die Nützlichkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse für die Menschen. Diese sind sehr verschieden und es gibt somit unterschiedliche Zielgruppen. Ich habe den Eindruck, dass die wissenschaftliche Seite Wissenschaftskommunikation viel zu sehr vom Produkt her sieht und einzig und allein beschreibt, was herausgefunden wurde – und dies für alle Zielgruppen in gleicher Weise. Man müsste meiner Meinung nach viel zielgruppenorientierter vorgehen und sich dabei auch fragen „Was wollen die Menschen eigentlich damit?“ Gute Wissenschaftskommunikation muss meines Erachtens zum einen die Zielgruppen differenzieren und dann die Botschaften auf die unterschiedlichen Bedarfe anpassen. Wissenschaftskommunikation sollte auch jeweils darauf hören, was denn die Leute von uns als Wissenschaftler:innen wissen wollen. Das zentrale Thema ist: Wissenschaft ist vor allem da gefragt, wo es noch keine gesicherten Fakten, keine gesicherten Erkenntnisse gibt. Und auf der Suche nach gesicherten Erkenntnissen haben wir vorläufige Ergebnisse, teils auch sich widersprechende Ergebnisse. Von außen sieht das hochgradig chaotisch aus. Die Corona-Pandemie war jetzt ein Lehrbeispiel dafür, dass verschiedene Disziplinen ganz unterschiedliche Dinge in den Mittelpunkt stellen. Ich habe den Eindruck, dass die Fragilität wissenschaftlicher Erkenntnis nur ganz schwer zu verstehen ist; und das ist oft das Kernproblem.

Wie muss ich meine Forschungsergebnisse entsprechend präsentieren?

HBB: Die Einordnung in den Forschungskontext wird in den wissenschaftlichen Fachpublikationen in der Regel mitgeliefert. Das ist ja auch Wissenschaftskommunikation, dass ich meine Befunde publiziere und einem wissenschaftlichen oder interessierten Publikum zugänglich mache. Das ist aber nicht das Problem. Das Problem sind die vielen verschiedenen anderen Zielgruppen, die zum Beispiel etwas wissen sollten über die Gefährlichkeit von Zucker in Kindernahrung oder ähnliches. Diese verschiedenen Gruppen muss ich unterschiedlich ansprechen, je nachdem, ob das Thema hoch involvierend ist oder nicht, und je nachdem ob und in welchem Umfang jemand davon betroffen ist. Man muss klar definieren: Wo sind die Zielgruppen? Wo müssen wir bestimmte Gesprächsangebote machen und wie müssen die aufbereitet sein? Müssen beispielsweise didaktische Angebote entwickelt werden oder Austauschangebote oder eher Fortbildungsangebote? Und wo müssen wir schlicht den Menschen zuhören?

Es ist im außer-wissenschaftlichen Bereich wenig bekannt, wie der Wissenschaftsbetrieb funktioniert, welche verschiedenen Akteure auf dem Publikationsmarkt aktiv sind oder welche Geschäftsmodelle es auf dem wissenschaftlichen Publikationsmarkt gibt. Muss die Gesellschaft davon erfahren? Oder reicht es, wenn dies innerhalb des Wissenschaftsbetriebs reflektiert wird?

HBB: Prinzipiell würde ich würde sagen, dass es natürlich sinnvoll ist, dass Menschen wissen, wie Wissenschaft funktioniert, damit sie auch beurteilen können, welche Art von Ergebnissen wir produzieren und warum diese Ergebnisse produziert werden. Man darf auch nicht vergessen, dass wir als Wissenschaftler:innen viel auch über klassische Medien erfahren. Vor allem von Forschungsergebnissen anderer Fachdisziplinen erfahren wir über Medien, die natürlich ihre eigenen Mechanismen haben. Das Problem, das wir uns zu selten bewusstmachen: Medien suchen sich Themen nicht zufällig aus, Medien suchen Themen auch nicht nach Relevanz aus, sondern nach Verkaufbarkeit. Selbst Medien, die es gar nicht nötig haben, orientieren sich an der Quote. Die meisten Themen, die wir Wissenschaftler:innen behandeln, sind nicht attraktiv genug für die Medien. Es kommt keine Gewalt und keine Prominenz vor und der Neuigkeitswert ist oft sehr kleinteilig. Und all das trägt nicht dazu bei, dass Journalist:innen wahnsinnig an Wissenschaft interessiert sind. Da ist der Wissenschaftler oder die Wissenschaftlerin mit aktuellen Forschungsergebnissen, die Ergebnisse werden von Fachjournalist:innen und Universitätspressestellen aufgegriffen und weiterverbreitet. Da wird es dann verständlich gemacht, und dann sitzt da am Ende ein Unterhaltungs-Journalist, ein politischer Journalist oder wer auch immer und transformiert es dann noch mal wieder nach seinen Selektionskriterien. Und hinten kommt irgendetwas heraus, was vorne so nicht freigegeben worden ist.

Wie können noch mehr Forschende von Open Science überzeugt werden?

HBB: Da würde ich zwei Gruppen unterscheiden: da sind einerseits die Wissenschaftler:innen so wie ich, die in ihrer Karriere schon eher am Ende als am Anfang sind. Dann gibt es andererseits die jungen Leute, die gerade promoviert haben und die darauf schauen, dass sie ihre eigene Karriere voranbringen können. Da ist natürlich immer auch intrinsische Motivation für Open Science, aber die intrinsische Motivation kommt natürlich in Konflikt mit Karriereüberlegungen. Und da müsste man noch stärker darauf achten, dass das entkoppelt wird. Und hier sind wir wieder bei der Frage: Wie kann man es schaffen, dass sich Leute altruistisch und nicht egoistisch verhalten, wenn sie spätestens in fünf Jahren darauf angewiesen sind, eine Professur zu bekommen. Eine Verbesserung der Situation muss man etwas differenzierter betrachten: Wenn man zum Beispiel die Präregistrierung nimmt, dann ist das etwas, das den Nachwuchs entlastet. Man reicht den Theorieteil seiner Forschung ein, und wenn der Theorieteil für gut befunden wird, dann ist egal, was herauskommt. Man muss dann nicht anfangen, lauter Signifikanztests auszurechnen, damit doch noch etwas publiziert werden kann. Das ist sicherlich eine Maßnahme, die dann auch die intrinsische Motivation für Open Science erhöht. Es ist sicherlich sinnvoll, zu schauen, was man relativ leicht umsetzen kann und was ein dickeres Brett ist.

Vielen Dank!

Das Interview wurde geführt von Dr. Doreen Siegfried.

Über Prof. Dr. Hans-Bernd Brosius

Prof. Dr. Hans-Bernd Brosius ist seit 1996 Professor am Institut für Kommunikationswissenschaft der Ludwig-Maximilians-Universität München. Von 1998 bis 2002 war er Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft (DGPuK). Nebenamtlich leitete er von 1995 bis 2004 das Medien Institut Ludwigshafen, eine Einrichtung der angewandten Medienforschung. Von 2001 bis 2021 war er Dekan der Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München. Seine Lehr- und Forschungsinteressen liegen in den Bereichen Mediennutzung, Medienwirkung und Methoden. Prof. Dr. Hans-Bernd Brosius ist Mitglied des LMU Open Science Centers.

Kontakt: https://www.ls1.ifkw.uni-muenchen.de/personen/professoren/brosius_hansbernd/index.html

ORCID-ID: https://orcid.org/0000-0001-7544-398X

ResearchGate: https://www.researchgate.net/profile/Hans-Bernd-Brosius




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