Wechselseitige Kritik ist nur möglich mit nachvollziehbarer Forschung

Jakob Kapeller über seine Open-Science-Erfahrungen

Foto von Prof. Dr. Jakob Kapeller

Die drei wesentlichen Learnings:

  • Wechselseitige Kritik ist essenziell für wissenschaftlichen Fortschritt. Kritik ist aber nur dann möglich, wenn Forschungsergebnisse und -prozesse möglichst transparent und intersubjektiv nachvollziehbar sind.
  • Journals, die von großen Wissenschaftsvereinigungen selbst administriert werden, machen akademische Outputs oft zu viel günstigeren Preisen verfügbar als kommerzielle Anbieter.
  • Mehr Offenheit kann historische Pfadabhängigkeiten oder machtvolle Gatekeeper-Positionen im wissenschaftlichen Diskursfeld aufbrechen. 

Wie beschreiben Sie Ihre generelle Haltung zum Thema Open Science?

JK: Die Frage nach Offenheit in der Wissenschaft im Allgemeinen und der freien Verfügbarkeit von Forschungsergebnissen im Speziellen wirft für mich vor allem eine gesinnungsethische Dimension auf: Wieso sollten Ergebnisse öffentlich finanzierter Forschung, die ja von der Allgemeinheit finanziert werden, nicht frei verfügbar sein? Hier unterscheidet sich die Wissenschaftsproduktion oft fundamental von anderen Bereichen des öffentlichen Sektors, dessen Leistungen und Infrastrukturen im Grunde allen offenstehen. In der Wissenschaft sind hingegen oft zusätzliche Schranken zu überwinden, um die entsprechenden Forschungsergebnisse einsehen und nutzen zu können. Von diesen zusätzlichen Schranken und Begrenzungen profitiert im Wesentlichen eine kleine Zahl internationaler Verlagshäuser mit hoher Marktmacht und rekordverdächtigen Profitraten, die in versteckten Subventionen durch öffentliche Forschungsleistung und universitäre Literaturbudgets begründet liegen. Hier berührt das Thema der offenen Wissenschaft also fundamentale Verteilungs- und Gerechtigkeitsfragen, da die eigentlichen Kosten der Vervielfältigung und Reproduktion von Wissen zumeist eher gering sind.

Zum anderen hat Offenheit in der Forschung auch eine epistemologische Funktion: Wenn wir Popper folgen und annehmen, dass wechselseitige Kritik eine zentrale Funktion für wissenschaftlichen Fortschritt hat, dann ergibt sich auch hieraus der Imperativ, Forschungsergebnisse und -prozesse möglichst transparent und intersubjektiv nachvollziehbar zu gestalten. Auch mit diesem Grundwert der Erkenntnisgewinnung steht die Offenheit also in einem positiven Zusammenhang.

Dabei übersehe ich nicht, dass Offenheit in meiner eigenen Forschung auch positive instrumentelle Effekte hat – meine Open-Access-Veröffentlichungen bekommen im Durchschnitt mehr Leser:innen, mehr Zitierungen und mehr Aufmerksamkeit. Diese Vorteile nehme ich natürlich gerne mit – sie stehen für mich aber nicht im Zentrum.

Gibt es einen Zusammenhang von Pluraler Ökonomik und Open Science?

JK: Nachdem auch Plurale Ökonomie ganz allgemein für mehr Offenheit im Wissenschaftsbetrieb steht, gibt es hier natürlich einige philosophische Schnittmengen. Sichtbar werden diese etwa im Kontext der Frage, wer an Forschungsprozessen beteiligt ist. Die besonders sichtbare und als besonders exzellent geltende Forschung ist im ökonomischen Bereich nach wie vor sehr stark von den USA bzw. den angelsächsischen Ländern dominiert, während Autor:innen aus dem Globalen Süden in den Spitzenzeitschriften des Fachs kaum zu Wort kommen. Das hat natürlich auch etwas mit der intrinsischen Qualität von Arbeiten zu tun. Aber es scheint doch unrealistisch, dass es im Globalen Süden keine exzellente Forschung geben sollte. Stellt man sich die Frage nach den Gründen für diese ungleiche Repräsentation von Beiträgen und Ideen, wird – neben anderen Dingen – schnell klar, dass die Hürden für Forscher:innen aus dem Globalen Süden schlichtweg höher sind. Und die begrenzte Verfügbarkeit von Literatur ist hierbei ein erstes zentrales Hindernis, das bestehende Asymmetrien in der Forschungslandschaft weiter verstärkt.

Mehr Offenheit geht dabei also mit dem Potential einher, bestehende Hierarchien – die ja insbesondere im ökonomischen Feld überdurchschnittlich steil sind – abzubauen und historische Pfadabhängigkeiten oder machtvolle Gatekeeper-Positionen im wissenschaftlichen Diskursfeld aufzubrechen.  

Schließlich zeigen sich auch in meinem Arbeitsalltag gewisse Komplementaritäten zwischen diesen Themenbereichen: wenn ich im Sinne der Pluralität meinen Literaturüberblick eher breit anlege oder wenn ich versuchen möchte, methodische Verfahren aus unterschiedlichen disziplinären Kontexten zusammenzuführen, bin ich systematisch darauf angewiesen, auf einen breiten Literaturbestand zurückgreifen zu können. Hier wiederum hilft Offenheit sehr – auch weil sie die Bearbeitungszeit zur Sichtung und Archivierung relevanter Literatur reduziert und uns so effizienter macht.

Mögen Sie uns ein Best-Practice-Beispiel aus Ihrem Bereich schildern?

JK: Eine wichtige Praxis ist sicherlich, alle Veröffentlichungen so gut es geht auch auf anderen, kostenlosen Distributionswegen sichtbar zu veröffentlichen. Working-Paper-Reihen und öffentliche Repositorien sind hier ein essentielles Gut, das es erlaubt, Kosten und Zugangsschranken auf sinnvolle Art zu umgehen. Auch subversivere Elemente wie die Nutzung von Sci-Hub oder das Verfügbarmachen eigener Arbeiten auf privaten Homepages sind Workarounds, die es erlauben, wissenschaftlichen Diskurs abseits profitorientierter Plattformen zu pflegen. Solche Verfahren halte ich für moralisch legitim, auch wenn diese Mittel manchmal rechtlich heikel sind.

Haben Sie konkrete Erfahrungen gemacht, die Sie möglicherweise überrascht haben?

JK: Eine konkrete Beobachtung zu dieser Thematik ist, dass Journale, die von großen Wissenschaftsvereinigungen selbst administriert werden, akademische Outputs zu viel günstigeren Preisen verfügbar machen als kommerzielle Anbieter. Letztere sind zwar eher in der Lage, Skaleneffekte auszunutzen, haben aber durch das Urheberrecht meist eine Art Quasi-Monopol, wenn es um einzelne wissenschaftliche Arbeiten geht. Daher finden wir in der Praxis ein riesiges Preisdifferential: vermeintlich ineffiziente, nicht-profitorientierte Vereinsstrukturen liefern mehr value-for-money als eine marktbasierte Allokation. Eine vielleicht überraschende Randnotiz, die diese Einsicht unterstreicht, ist, dass gerade die American Economic Association, die Märkten als Instrument sozialer Organisation ja durchaus positiv gegenübersteht, dem Marktmechanismus nicht vertraut und ihre Zeitschriften weiterhin im Eigenverlag herausgibt.

Vielen Dank!

Das Interview wurde am 29. Dezember 2022 geführt von Dr. Doreen Siegfried.

Über Prof. Dr. Jakob Kapeller

Dr. Jakob Kapeller ist Professor für Sozioökonomie bei der Universität Duisburg-Essen und Leiter des Instituts für die Gesamtanalyse der Wirtschaft an der Johannes-Kepler-Universität Linz (ICAE). In seiner Forschung beschäftigt er sich mit wirtschaftlicher Entwicklung und sozialem Wandel, der Geschichte des wirtschaftlichen und politischen Denkens, mit menschlichem Handeln in institutionellen Kontexten, politischer Ökonomie und heterodoxen Wirtschaftswissenschaften sowie mit der Philosophie der Sozialwissenschaften. Für seine Forschung wurde er unter anderem ausgezeichnet von der Keynes-Gesellschaft, er erhielt 2016 den Kurt W. Rothschild Prize und mehrfach den K. William Kapp Prize der European Association of Evolutionary Political Economy (EAEPE).

Kontakt: https://jakob-kapeller.org/

ORCID-ID: 0000-0002-7538-9706

LinkedIn: https://www.linkedin.com/in/jakob-kapeller-b3356b56/

ResearchGate: https://www.researchgate.net/profile/Jakob-Kapeller/2




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