Open Science ist eine Frage der Kooperation
Joachim Gassen über seine Open-Science-Erfahrungen
Die drei wesentlichen Learnings:
- Wissenschaft braucht Kooperation, denn wir bauen immer auf den Methoden und Erkenntnissen von anderen auf. Man kommt besser und mit mehr Freude voran, wenn man miteinander teilt und sich gegenseitig hilft.
- Open Science ist Kooperation. Der Open-Science-Workflow ist auf Kooperation ausgerichtet. Damit dient Open Science dem wissenschaftlichen Fortschritt. Und: Man kooperiert immer – und wenn man nur mit seinem zukünftigen Selbst kooperiert!
- Lernen fördert Kooperation. Das Lernen in Teams, zum Beispiel in Reading-, Methods-, Data- oder Coding-Groups ist perfekt, um sich neue Kompetenzen anzueignen und gemeinsame Projekte zu starten.
Sie leiten das Open Science Data Center für den Sonderforschungsbereich „Accounting for Transparency“ an der HU Berlin. Wie sieht Ihre Arbeit im Open Science Data Center konkret aus?
JG: Wir haben im Prinzip drei Säulen. Die erste Säule umfasst unsere Infrastrukturservices. Hier stellen wir die technische Dateninfrastruktur für unseren Sonderforschungsbereich bereit und bereiten beispielsweise kommerzielle Daten auf. Das ist ein Arbeitsschritt, den man in fertigen Papieren nicht sieht, der aber oft mit erheblichem Aufwand verbunden ist. Daher lohnt es sich, dies an zentraler Stelle zu machen, damit nicht jede:r Wissenschaftler:in die gleichen Arbeitsschritte wiederholen muss.
Die zweite Säule widmet sich dem Open Science Workflow. Wir wollen es den Forschenden bei uns im Sonderforschungsbereich und auch in der Community allgemein leichter machen, ihre Daten, ihren Code und ihre Methoden mit anderen zu teilen. Das fängt mit der konzeptionellen Unterstützung bei Fragen des „Wie“ an und endet dann ganz operativ beim eigentlichen Ausrollen von Daten sowie beim Pflegen von Datensätzen, Prozeduren und Methoden. Hierbei entwickeln wir einerseits Softwarepackages und Repository-Templates, die diese Arbeitsschritte unterstützen. Andererseits sammeln wir auch selber Daten von öffentlich verfügbaren Quellen, die wir so administrieren und verdichten, so dass sie wissenschaftlich genutzt werden können.
Die dritte Säule umfasst Bildungsaktivitäten im weitesten Sinne und ist, ehrlich gesagt, größer geworden als wir am Anfang angenommen haben. Hierbei ist unser Ziel, Wissenschaftler:innen an Open-Science-Methoden heranzuführen. Es gibt nach unseren Erfahrungen weniger Probleme mit dem „Ob“, sondern eher mit dem „Wie“. Wir treffen auf eine große Offenheit, was Code Sharing und insbesondere Data Sharing angeht. Aber gleichzeitig begegnen wir häufig Bedenken, dass die eigene Arbeit „nicht gut genug sei“, um sie öffentlich zu teilen. Hierbei geht es natürlich nicht um die eigentliche Qualität der wissenschaftlichen Arbeit, sondern eher um die technische Implementierung. So haben Wissenschaftler:innen regelmäßig die Sorge, dass ihr Code zu „messy“ sei. Auch bei der Datenaufbereitung und -dokumentation gibt es häufig Unsicherheiten. Die Angst vor eigenen Fehlern ist generell hoch. Da wollen wir durch unsere Aktivitäten ein Umdenken in zwei Richtungen bewirken: Erstens lässt sich durch die Adaption von einigen Arbeitsschritten die Fehleranfälligkeit von wissenschaftlichen Analysen bereits in der Entwicklungsphase deutlich reduzieren. Zweitens führt ein offenerer und transparenter Workflow quasi automatisch zu einer höheren Fehlertoleranz aller Beteiligten.
Wo setzen Sie mit Ihren Workshops, Coachings etc. an, um Interessierte auszubilden? Starten Sie zum Beispiel mit Tutorials zu „Wie funktioniert eigentlich GitHub?“ oder „Wie bediene ich Open Science Framework?“
JG: Wir haben angefangen mit einem Statistical Programming Language Course, wo Fragen wie Git/GitHub-Nutzung eine Rolle spielen, genauso wie fundamentale Konzepte der funktionalen und objektorientierten Programmierung. Im Vordergrund stehen aber immer praktische Fragen wie „Wie sammle ich algorithmisch Daten von unterschiedlichen Quellen?“, „Wie säubere, strukturiere und dokumentiere ich sie?“, „Wie konzipiere ich reproduzierbare Analysen?“, „Wie stelle ich langfristige Reproduzierbarkeit sicher?“ und, zunehmend wichtiger, „Wie ich mache ich aus meinen Daten und Methoden ‚Produkte‘, die andere Wissenschaftler:innen nutzen können?“. Das klingt vielleicht teilweise sehr technisch, aber wir versuchen, die Wissenschaftler:innen da abzuholen, wo sie sind. Wir wollen aus Wirtschaftswissenschaftler:innen keine Software-Entwickler:innen machen. Aber wir wollen ein paar Konzepte vermitteln, die helfen, Selbstvertrauen in die eigene Daten- und Analysearbeit zu gewinnen. Das ist ein wichtiger Punkt, denn nur wenn Forschende das Gefühl haben, dass ihre Arbeit wirklich handfest ist, sind sie bereit, sie mit anderen zu teilen. Vor der Pandemie hatten wir primär Face-to-Face-Workshops geplant, die mussten wir natürlich alle abblasen. Stattdessen haben wir Onlinekurse angeboten und teilweise unsere Sachen auch einfach auf YouTube gestellt. Wir sehen jetzt, dass unser Angebot teilweise auch von Personen genutzt wird, die nicht in unserem Feld arbeiten und dementsprechend gar nicht in einer direkten Beziehung zu uns stehen. Das freut uns sehr!
Kooperieren Sie hier mit anderen Universitäten, die auch Open-Science-Trainings anbieten?
JG: Ja, es gibt viel informelle und auch formelle Zusammenarbeit auf unterschiedlichen Ebenen mit den unterschiedlichen Gruppen. So haben wir für unseren Onlinekurs zu Research on Corporate Transparency mit Wissenschaftler:innen von unterschiedlichsten Institutionen zusammengearbeitet. Einen Kurs zur Open Science Methods im Accounting bieten wir in Kooperation mit dem ProDok-Programm des Verbands der Hochschullehrerinnen und Hochschullehrern für Betriebswirtschaftslehre an. Wir haben aber auch die Erfahrung gemacht, dass vor allem Role Models aus der eigenen Scientific Community andere Wissenschaftler:innen für Open Science begeistern. Das ist nicht offensichtlich, weil man eigentlich denken könnte, dass es keinen großen Unterschied gibt, ob der- oder diejenige, die mir gerade etwas über Datenanalyse erklärt, z.B. Soziologe, Politologe oder Ökonomin ist. Letztendlich ist der Workflow ähnlich, wenn auch die Datenquellen variieren. Wir beobachten aber: Wenn Doktorand:innen sehen, dass jemand aus ihrer Community Methoden, Daten und oder Code zur Verfügung stellt, dann bewirkt das regelmäßig mehr. Wir haben zum Beispiel ein Workflow-Repository, in dem typische Arbeitsschritte der empirischen Accounting-Forschung mit Archivdaten enthalten sind. Das wird gut angenommen, weil es Accounting-Forschenden direkt hilft. Ich denke, dass dezentrale fachspezifische Aktivitäten häufig eine niedrigere Hemmschwelle haben, Nachahmungseffekte auslösen und so auch einen echten Nutzen bringen.
Wer sind in Ihrem Bereich die Vorbilder?
JG: Das klingt vielleicht ein bisschen vermessen, aber ich würde hoffen, dass wir für unser kleines Feld auch eine gewisse Vorbildfunktion einnehmen. Wir sind aber natürlich bei Weitem nicht allein. Es gibt bei uns im Bereich auch andere Wissenschaftler:innen, die schon immer ein bisschen vorweg marschiert sind. So stellt zum Beispiel unser Kollege im TRR, Laurence van Lent, die Daten, die er mit seinen Koautoren mit Methoden des Natural Language Processing aus Unternehmensveröffentlichungen gewinnt, schon seit Längerem der breiten Öffentlichkeit zur Verfügung und pflegt diese auch sehr gut. Ich glaube, Forschende wie er setzen ein Signal und dienen als Role Models. Auch das Journal of Accounting Research, eines der führenden Journals im Bereich Accounting, ist hinsichtlich Open-Science-Themen sehr proaktiv, und das hat meiner Meinung nach auch einen gewissen Schub ausgelöst. Und natürlich macht Lars Vilhuber, der Data Editor der American Economic Association, einen tollen Job in dieser Hinsicht. Diese Initiativen haben unter anderem auch dazu geführt, dass wir für das Journal der European Accounting Association, European Accounting Review, auch einen Open-Science-Track eingerichtet haben.
Das Open-Science-Thema ist laut Ihrer Website auch ein Leitbild für den Sonderforschungsbereich. Wozu verpflichten sich Wissenschaftler:innen, die mitarbeiten?
JG: Wir haben als Forschungsverbund ein klares Commitment zu Open Science, aber natürlich genießen unsere Wissenschaftler:innen weiterhin Forschungsfreiheit. Praktisch bedeutet dies, dass unsere Forschenden begründen müssen, warum sie ggf. nicht in der Lage sind, ihre Materialien zu teilen. Das funktioniert in der Praxis recht gut. Auch wenn sich nicht jedes Projekt hinsichtlich Data- und Codesharing anbietet, so ist es uns doch gelungen, viele Forschende in Richtung Open Science zu ‚nudgen‘. Und das ist auch gut so. Wir sind ein staatlich finanzierter Sonderforschungsbereich. Unsere Arbeit sollte dementsprechend auch der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen.
Durch dieses „mentale Umdrehen“ der Entscheidung im Sinne von „Du musst Deine Materialien nicht öffentlich zur Verfügung stellen, es gibt keinen Zwang, aber Du musst uns begründen, wenn und warum Du das nicht machen kannst“ haben wir auch einiges über die Gründe gelernt, die aus Sicht der Forschenden für oder gegen das Teilen ihrer Materialien im Sinne von Open Science sprechen. Wie bereits erwähnt, hatten wir am Anfang die Sorge, dass viele zum Beispiel als Grund angeben, dass es ihre Daten sind, die sie mit viel Mühe erhoben haben und nun nicht teilen wollen. Das war aber nur sehr selten der Fall. Häufiger haben wir über das Timing der Datenbereitstellung gesprochen. So befinden sich Projekte bekanntermaßen lange im Reviewprozess, und häufig wollen Forschende ihre Materialien nicht teilen, bevor dieser abgeschlossen ist. Das ist für mich auch eine Frage der Qualitätskontrolle und das kann ich sehr gut nachvollziehen. Der am häufigsten genannte Grund ist aber, dass Forschende unsicher sind, wie das Bereitstellen der Materialien praktisch abläuft und ob sie hier alles richtig machen. Und da sind wir wieder bei der Ausbildung.
Wo sehen Sie beim Open Science Data Center besondere Herausforderungen bei der Umsetzung der Grundsätze von Open Science? Ist das eine Frage von Mindset oder eher eine Frage von Handwerk?
JG: Sowohl als auch. Ich fange mit dem Mindset an, weil ich das auch für ein bedeutendes hochschulpolitisches Thema halte. Eigentlich ist das Mindset-Problem nicht so groß, wie man manchmal hört. Die junge Generation von Wissenschaftler:innen ist in einer Knowledge Sharing Economy aufgewachsen. Ich kenne keine:n Entwickler:in, der oder die nicht ständig googelt und sich von anderen Leuten etwas abschaut. Das heißt also: Für uns ist das Teilen von Code, Daten und Software zur Gewohnheit geworden, zumindest passiv. Ich glaube, was ein Mindset-Problem generiert, ist der akademische Arbeitsmarkt und da ganz stark auch das Tenure-System. Solange für Tenure-Entscheidungen Code- und Data Sharing sowie ähnliche Aktivitäten nicht wirklich zählen, brauchen wir uns nicht wundern, wenn Nachwuchswissenschaftler:innen sich fragen, inwiefern Open Science ihrer Karriere hilft. Das setzt meiner Meinung nach perverse Anreize und verzerrt das wissenschaftliche Kooperationsmodell hin zu einem Wettbewerbsmodell. Es gibt zudem Institutionen, Universitäten, Verbünde etc., die diesen Wettbewerb auch noch explizit fördern. Aber zum Glück gibt es auch Institutionen, die versuchen, den Wettbewerbsgedanken in der Wissenschaft ein bisschen abzuschwächen und den Kooperationsgedanken hervorzuheben. Wir als Sonderforschungsbereich hoffen, dass wir zur zweiten Gruppe gehören. Wir sind ein Forschungsverbund und deswegen leben wir von Kooperation und predigen dementsprechend den Grundgedanken „be generous“. Ich persönlich bin fest davon überzeugt, dass Forschende auf lange Sicht mehr Erfolg und auch erfüllendere Karrieren haben, wenn sie sich gegenseitig helfen, teilen und zusammenarbeiten.
Es gibt noch zahlreiche andere Aspekte, die interessant sind, zum Beispiel die Frage von Hierarchien in Teams: Wenn in einer Arbeitsgruppe die Doktorand:innen die hauptsächliche Datenarbeit machen und die Seniors eher die konzeptionelle Arbeit und den Aufschrieb des Papiers verantworten, dann fällt es den Senior-Autor:innen unter Umständen schwer, darüber (mitzu)entscheiden, ob Materialien öffentlich bereitgestellt werden sollen. Andererseits sehen sich die Juniors aber auch nicht in der Position, hierüber eigenmächtig zu entscheiden. Das sagt meiner Meinung nach auch viel darüber aus, wie wir eigentlich in Teams arbeiten bzw. arbeiten sollten. Meines Erachtens ist es ein Problem, wenn schon innerhalb eines Teams eine echte Kommunikation über Daten und Methoden nicht stattfindet und teilweise auch aufgrund von Arbeitsprozessen gar nicht stattfinden kann.
Da sind wir wieder bei Kooperation. Kooperationsmöglichkeiten zu schaffen ist DAS Thema unserer Arbeit. Unser Claim ist „Open Science is all about cooperation“. Das gilt sogar für Soloprojekte, für die eigentlich keine Kooperation geplant ist, denn „be kind to your future self: adopt open science methods!“ Das bedeutet, dass man jedes Projekt, das man macht, auf Kooperation angelegt konzipieren sollte. Wissenschaftliche Projektzyklen sind teilweise sehr lang und wenn ich zum Beispiel ein Projekt aufgreife, an dem ich vor einem Jahr das letzte Mal gearbeitet habe, dann bin ich meinem früheren Selbst dankbar, wenn es vor einem Jahr seine Prozessschritte in einem gut strukturierten Repository vernünftig dokumentiert hat, ein gutes Data Codebook geschrieben und die Abhängigkeiten im Programmcode so dokumentiert hat, dass ein automatischer ‚Build‘ des Projekts möglich ist. All dies erfordert einen bestimmten Workflow und bestimmte Kompetenzen. Und das ist der Weg, wie sich Open Science quasi in den Maschinenraum der Wissenschaft verankert.
Wo sehen Sie die Herausforderungen in der Argumentation pro Open Science?
JG: Neben dem bereits diskutierten Punkten ist eine der größten Herausforderungen für Open-Science-Projekte, Materialien nicht nur zu veröffentlichen, sondern auch dafür zu sorgen, dass sie tatsächlich genutzt werden. Es gibt Unmengen von wissenschaftlich relevanten Daten und Algorithmen im Netz, die kein Mensch nutzt. Also geht es primär darum, Beiträge zu leisten, die so interessant und nutzbar sind, dass andere Forschende sie irgendwie in ihre Forschung einbauen, weiterentwickeln und hinterfragen. Im Bereich Data Science spricht man in diesem Zusammenhang auch von „Data and Code Products“.
Wie kommunizieren Sie an außerwissenschaftliche Interessensgruppen?
JG: In unserem Sonderforschungsbereich gibt es ein Kommunikationsprojekt, in dem wir versuchen, Daten so aufzubereiten, dass sie von der Öffentlichkeit angenommen werden. Wenn das dann mal glückt, merkt man auch gleichzeitig, dass das auch Ressourcen fordert. Zum Beispiel pflegen wir bei uns einen Insolvenzdatensatz, für den wir tagesaktuelle Insolvenzdaten von deutschen Unternehmen aufbereiten und in einer aggregierten Form auch der Öffentlichkeit über ein Dashboard zur Verfügung stellen. Die Daten sollen aus unserer Sicht mittelfristig primär der mikroökonomischen und juristischen Forschung zur Unternehmensinsolvenzen dienen. Aber als wir das dann zum ersten Mal öffentlich ausgerollt haben, gab es eine kleine Medienwelle und auch Anrufe von Insolvenzberater:innen und Anwält:innen, die ein eher kommerzielles Interesse an den Daten hatten. Auch wenn öffentliches Interesse grundsätzlich natürlich positiv ist, war in dem konkreten Fall hier eine kommerzielle Nutzung der Daten schon aus Gründen des Datenschutzes nicht geplant und auch nicht möglich.
Ein weiterer Punkt, den ich als bereichernd empfinde, ist, dass das Arbeiten im Bereich Open Science auch häufig bedeutet, dass man eine ganz andere Form von wissenschaftlicher Reichweite entwickelt, da Open-Science-Themen häufig einen breiteren Anwendungsbereich haben als die normale Forschung im Feld. Wir befassen uns ja in unserem Transregio mit Fragen der Unternehmenstransparenz. Trotzdem werden unsere Methoden und Softwarepakete auch von Forschenden aus ganz anderen Bereichen genutzt. Neulich habe ich zum Beispiel eine sehr nette E-Mail von Environmental-Science-Wissenschaftler:innen aus den USA bekommen, die in ihrem Lab einen Workshop zu einem von unseren Softwarepackages gemacht haben. Natürlich nur eine Kleinigkeit, aber trotzdem sehr motivierend, finde ich.
Wo hat Sie die Beschäftigung mit dem Thema Open Science persönlich vorangebracht?
JG: Durch das Teilen von Forschungsmaterialien entwickelt man einen anderen Anspruch an den eigenen Output. In diesem Zusammenhang habe ich unendlich viel von anderen Forschenden gelernt und tue das auch immer noch. Insbesondere die Produktivität der Scientific Open Source Community ist für mich schwer beeindruckend. Was vor einigen Jahren noch methodisch schwer bzw. für intellektuell begrenzte Personen wie mich (fast) unmöglich war, wird heute Dank der unendlichen Großzügigkeit von vielen machbar. So kann ich heute teilweise Projektschritte innerhalb einer Woche realisieren, die mich vor zehn Jahren noch ein halbes Jahr gekostet hätten. Und das geht, weil ich nicht alles selbst machen muss. Wir alle nutzen wie selbstverständlich täglich Tools, die andere uneigennützig bereitgestellt haben und mit viel Zeitaufwand pflegen. Es gibt weitere Personen, die sich die Mühe machen, diese Tools so gut zu dokumentieren und zu erklären, dass wir sie verstehen und mit ihnen arbeiten könnten. Und diese Art der Zusammenarbeit ist so unglaublich viel effektiver als wenn jede:r von uns für sich alleine rumwerkelt. Wenn man dieses Kooperationsprinzip verstanden hat, stellt sich die Frage nicht mehr, was Open Science bringt. Das ist dann offensichtlich.
Welche Möglichkeiten haben BWL-Absolvent:innen, die vielleicht gerade ihre Promotion starten, sich Data Skills oder Softwareentwicklungs-Skills anzueignen?
JG: Einerseits gibt es viele gute Onlinekursangebote und verfügbare Materialien, die es wesentlich leichter machen, sich in neue Methoden und Verfahren einzuarbeiten. Aber ich persönlich glaube nicht, dass man nur durch Googeln ein guter Data Scientist werden kann. Neben einer soliden Ausbildung in Statistik und Ökonometrie ist es, da bin ich überzeugt, wichtig, dass man motivierende Lernerlebnisse mit anderen Menschen zusammen hat. Wenn ich mit anderen gemeinsam ein Projekt durchführe, lerne ich immer mindestens ein, zwei neue Kniffe. Die Freude darüber, gemeinsam mit anderen etwas herauszubekommen, was noch niemand vorher wusste und was man nicht googeln kann, ist meines Erachtens eh schwer zu toppen. Wenn ich mir etwas wünschen könnte, würde ich mir wünschen, dass wir schon in unserer Bachelorausbildung ein empirisches Gruppenprojekt als Pflichtbestandteil einbauen, ganz ähnlich wie die Naturwissenschaften ihre Laborpraktika. Dort könnten Studierende lernen, mit Daten zu arbeiten, informative Tabellen und/oder Grafiken anzufertigen um überschaubare, deskriptive Fragen zu beantworten und damit kleine Erkenntnisse zu generieren, die die Welt vorher noch nicht gesehen hat.
Was würden Sie Nachwuchswissenschaftler:innen als Einstieg ins Thema raten?
JG: Keine Angst! Die anderen kochen auch nur mit Wasser. Am besten ist, mit kleineren Projekten anzufangen und sich dabei bewusst zu werden, wo man selbst seinen kleinen Beitrag leisten kann. Ein Beitrag zur Open Science Community muss beileibe nicht immer technisch anspruchsvoll und methodisch komplex sein. Ein Beispiel: Vincent Arel-Bundock, ein Professor für Political Science aus Kanada, hat viele tolle Open-Science-Projekte. Aber eines meiner Lieblingsprojekte ist ein kleines R package, das es einfach macht, Länderdaten mit einheitlichen Identifikatoren zu versehen. Jede:r, die schon mal leise vor sich hinfluchend einen Datensatz mit 150 leicht arbiträr geschriebenen Ländernamen mit ISO3c Ländercodes versehen hat, um die Daten mit anderen Daten zu matchen, wird schnell verstehen, wie hilfreich so ein kleines Package sein kann. Ein weiter Tipp wäre: Lieber kleine Dinge früher teilen als große Dinge spät oder nie. Große Dinge werden nie fertig und selbst wenn, sind sie häufig sehr spezifisch und können von anderen deswegen nur schlecht genutzt werden. Kleine Dinge, zum Beispiel ein Codeschnipsel, der ein bestimmtes Problem löst, den man auf Stackoverflow postet, kann der Start in eine schöne Open-Science-Karriere sein. Letzter Punkt: In vielen Arbeitsgruppen gibt es Reading Groups, in denen man aktuelle Papiere diskutiert. Warum nicht auch Data oder Coding Groups? Also Gruppen, in denen man sich trifft und über Themen rund um Data Science spricht und sich gegenseitig hilft.
Wenn Sie jetzt einen Blick in die Zukunft werfen, wie sehen Sie die Entwicklung bei diesem Thema?
JG: Open Science ist Realität, wenn auch nicht in allen Feldern gleichermaßen. Ich denke, dass die Bedeutung von Open Science für den wissenschaftlichen Fortschritt noch weiter zunehmen wird. Ein wichtiger Punkt in diesem Zusammenhang ist die Rolle von Open-Science-Beiträgen im Rahmen von Berufungs- oder Beförderungsprozessen. Hierüber muss sich die Hochschulpolitik noch mehr Gedanken machen, und auch wir als Wissenschaftler:innen müssen unsere Einstellungen ändern. Zumindest in den Wirtschaftswissenschaften verkürzen wir Forschungsleistungen auf Journalveröffentlichungen. Das ist meines Erachtens schon jetzt ein Anachronismus. Eine Person, die einen Datensatz entwickelt hat und pflegt, der von Tausenden von Papieren genutzt wird, leistet offensichtlich einen wissenschaftlichen Beitrag. Mir ist nicht ersichtlich, warum sich diese Person gegenüber jemandem rechtfertigen müsste, die/der einen American-Economic-Review-Artikel veröffentlicht hat, der in den letzten drei Jahren zehnmal zitiert wurde. Generell wird Wissenschaft heutzutage über viele Kanäle kommuniziert und gelebt. Unsere Forschungsevaluation ist allerdings immer noch sehr auf Journalveröffentlichungen als unbestrittenen Hauptkanal fokussiert. Hier bin ich optimistisch, dass sich das künftig ein wenig ändert, auch wenn es dafür vielleicht einen hochschulpolitischen Nudge braucht.
Ein anderes Thema, was mir wichtig ist, ist die Frage der „Entkommerzialisierung“ von Daten, insbesondere im Wirtschaftsbereich. Aktuell haben wir zum Beispiel die paradoxe Situation, dass Unternehmen gesetzlich verpflichtet sind, umfangreiche Finanzdaten bereitzustellen. Die Pflicht und das Recht zur Verbreitung dieser Daten wurde indes vom Bundesministerium der Justiz an einen privaten Verlag übertragen. Dies führt letztendlich dazu, dass die wissenschaftliche Nutzung der Daten faktisch nur über den Erwerb einer kommerziellen Lizenz möglich ist und selbst die Bundesministerien die Daten ihrer Unternehmen für viel Geld von einem kommerziellen Datenanbieter zurückkaufen müssen. Diese kommerziellen Schutzrechte behindern die Wissenschaft und sind Gift für wissenschaftliche Inklusivität. Ich hoffe, dass Institutionen wie der RatSWD und auch die neu etablierte Nationale Forschungsdateninfrastruktur (NFDI) hier noch mehr tätig werden und mit dem Gesetzgeber zusammenarbeiten, um kluge Regulierungen zu entwickeln, die einerseits das individuelle Recht auf informelle Selbstbestimmung schützen, aber andererseits den öffentlichen Datenbestand für Open-Science-Projekte verfügbar machen.
Vielen Dank!
Das Interview wurde geführt von Dr. Doreen Siegfried.
Das Interview wurde geführt am 31.03.2022.
Über Prof. Dr. Joachim Gassen
Prof. Dr. Joachim Gassen ist seit 2006 Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin für die Bereiche Rechnungslegung und Wirtschaftsprüfung. Seit 2019 ist er zudem Distinguished Affiliated Professor an der European School of Management and Technology in Berlin. Er ist stellvertretender Sprecher des transregionalen Sonderforschungsbereichs „Rechnungswesen, Steuern und Unternehmenstransparenz“, dem TRR 266 „Accounting for Transparency“. Hier untersucht ein Team aus über 100 Wissenschaftler:innen, wie Rechnungswesen und Besteuerung die Transparenz von Unternehmen beeinflussen und wie sich dies auf Wirtschaft und Gesellschaft auswirkt. In diesem Verbund leitet Joachim Gassen unter anderem das Open Science Data Center, dessen Kernziel es ist, durch konkrete Projekte dazu beizutragen, dass ökonomische Forschung transparenter, kooperativer und inklusiver wird. Innerhalb der VHB-Promovierendenausbildung bietet Joachim Gassen im ProDok-Programm Kurse für Open-Science-Methoden an.
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